Schöneberger Eisenbahntruppen
Seit 1873 waren die Preußischen Eisenbahntruppen mit ihren Kasernenbauten und Paraden ein fester Bestandteil von Tempelhof und Schöneberg. Als verkehrstechnische Sondereinheit waren sie für Transport und Versorgung des Militärs besonders wichtig. Sie nutzten das Tempelhofer Feld als Übungsplatz und trainierten hier den Bau und die Inbetriebnahme von Eisenbahnstrecken.
Die Eisenbahntruppen waren an verschiedenen kriegerischen Konflikten in den Kolonien beteiligt. 1899 wurde eine Einheit der Eisenbahnregimenter von Schöneberg aus nach China entsandt, um dort gegen die als ‚Boxer‘ bezeichnete antikoloniale Bewegung des „Verbandes für Gerechtigkeit und Harmonie“ vorzugehen. Fünf Jahre später brach eine Eisenbahntruppe in die Kolonie Deutsch-Südwestafrika (heute Namibia) auf, in der kurz zuvor ein Krieg begonnen hatte. Noch in Berlin zogen sie die Uniform der sogenannten ‚Schutztruppen‘ an, die gut an dem charakteristisch zur Seite geklappten ‚Südwester‘-Hut erkennbar ist. Die Schiffsüberfahrt ins Kriegsgebiet dauerte etwa vier Wochen. An Bord befanden sich neben deutschen Soldaten auch junge Hilfsarbeiter aus verschiedenen afrikanischen Küstenstädten. Schon während der Reise wurde die Truppe auf ihren Einsatz eingestimmt. Dazu gehörte das Einschwören auf ein rassistisches Feindbild mittels Lieder und Gerüchte.
Die Ursachen für den Krieg in Deutsch-Südwestafrika lagen in der schrittweisen Enteignung und Entrechtung der einheimischen Bevölkerung zu Gunsten der Ansiedlung deutscher Farmen. Die Menschen vor Ort sahen ihrer Enteignung und Entrechtung jedoch nicht tatenlos zu. Bis 1904 gab es sieben militärische Auseinandersetzungen mit den deutschen Kolonisatoren. Zu den Widerstandskämpfer_innen gehörte auch Hendrik Witbooi, politischer Vertreter der Nama. Nach intensiven und verlustreichen Kampfhandlungen unterzeichnete er 1894 auf Befehl von Gouverneur Theodor Leutwein einen sogenannten „Schutz- und Friedensvertrag“. Im Gegenzug zu Gebietszusicherungen verpflichtete der Vertrag die Nama zur Anerkennung der deutschen Kolonialmacht.
Die Ablösung Leutweins durch den General Lothar von Trotha im Juni 1904 markierte den Übergang vom Krieg zum Genozid. In einem als „Schießbefehl“ bekannt gewordenen Erlass kündigte von Trotha an, dass jeder Herero, der auf dem von Deutschen kontrollierten Gebiet angetroffen würde, in die Wüste Omaheke zurückgetrieben oder erschossen werde. Als Folge dieses Befehls starben zehntausende Herero qualvoll in der Wüste. Ähnlich gingen die Deutschen gegen die Nama vor, die sich dem Kampf der Herero angeschlossen hatten. Auch nachdem der Befehl von Trothas im Dezember 1904 aufgehoben worden war, ging das Sterben für die Herero und Nama in Konzentrationslagern weiter.
Der maßlose Einsatz von Gewalt war charakteristisch für diesen und andere militärische Einsätze auf kolonialem Gebiet. Auf europäischem Boden wäre er nicht ohne weiteres möglich gewesen, da die 1899 verabschiedete Haager Landkriegsordnung solche Kriegsstrategien ächtete. Das gewalttätige Vorgehen der deutschen Soldaten gipfelte schließlich zwischen 1904 und 1907 im Genozid an den in Namibia lebenden Herero und Nama, dem schätzungsweise über 70.000 Menschen zum Opfer fielen. In der deutschen Presse wurde über die Gewaltanwendung berichtet, oft ohne diese jedoch in Frage zu stellen.
Am Völkermord waren auch die Eisenbahntruppen aus Schöneberg beteiligt. Dazu gehörte unter anderem der Einsatz von Herero und Nama Kriegsgefangenen als Zwangsarbeiter_innen. Für den Bau der Bahnstrecke zwischen Lüderitzbucht (heute Lüderitz) und Keetmanshoop wurden mehrere tausend Herero und Nama eingesetzt. Zwei Drittel von ihnen starben in Folge der katastrophalen Lebens- und Arbeitsbedingungen allein zwischen 1906 und 1907. Während des Genozids wurden außerdem Schädel von toten Herero gesammelt, um sie nach Deutschland an wissenschaftliche Einrichtungen zu schicken. An der Beschaffung und dem Transport der Schädel beteiligte sich auch Felix Wagenführ, der Leutnant beim 2. Eisenbahnregiment in Schöneberg war und später Karriere bei der deutschen Luftwaffe machte.
1910 wurde auf einem Kasernenhof der Eisenbahntruppen in Schöneberg ein Denkmal für die „gefallenen China- und Afrikakämpfer“ eingeweiht. Ähnlich wie andere Kolonialdenkmäler pflegte es das Selbstbild der heldenhaften Soldaten, die als Vertreter der „Zivilisation“ gegen die „Barbarei“ in den Überseegebieten gekämpft hatten. Der Gedenkstein ist heute nicht mehr vorhanden.
- Dieser Text ist die überarbeitete Fassung eines Kapitels aus der Ausstellung „Forschungswerkstatt: Kolonialgeschichte in Tempelhof und Schöneberg“, die das Schöneberg Museum vom 19.5. bis 29.10.2017 zeigte.
Marie Becker
Johanna Strunge
ORT
Preußische EisenbahnregimenterHEUTE
General-Pape-Straße, 12101 BerlinZitieren des Artikels
Marie Becker Johanna Strunge Schöneberger Eisenbahntruppen. In: Kolonialismus begegnen. Dezentrale Perspektiven auf die Berliner Stadtgeschichte. URL: https://kolonialismus-begegnen.de/geschichten/schoeneberger-eisenbahntruppen/ (12.06.2024).
Literatur & Quellen
Susanne Kuß: Deutsches Militär auf kolonialen Kriegsschauplätzen. Eskalation von Gewalt zu Beginn des 20. Jahrhunderts, Berlin 2010.
Hendrik Witbooi: The Hendrik Witbooi Papers, Windhoek 19952, (Tagebuch von Hendrik Witbooi, ins Englische übersetzt).
Jürgen Zimmerer/Joachim Zeller: Völkermord in Deutsch-Südwestafrika. Der Kolonialkrieg (1904–1908) in Namibia und seine Folgen, Berlin 20163.
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