Der „Colonialwaren“-Handel in Kreuzberg

Ab etwa der Jahrhundertwende machte sich der Kolonialismus zunehmend in der Gesamtwirtschaft des Reiches bemerkbar, was sowohl die Einfuhr von Rohstoffen als auch neue Dimensionen des Konsums betraf. So schlugen sich der europäische und globale Kolonialismus auch in der lokalen Ökonomie Friedrichshains und Kreuzbergs nieder und banden diese Stadtregionen in die globale Verwertung kolonialer Ressourcen ein: Zum einen bestand im Bereich der Ritterstraße ein als »Goldene Meile« bezeichnetes Gewerbeviertel, ein bis zum Zweiten Weltkrieg bedeutendes Viertel mit Fabrikationsstädten und Musterhäusern, die zum Teil auch mit kolonialen Rohstoffen arbeiteten und häufig hochpreisige Waren für den Export herstellten. Zum anderen spielten Kaufleute aus Kreuzberg und Friedrichshain eine nicht unwesentliche Rolle in der Entwicklung des Kolonialwaren-Einzelhandels.

Kolonialismus war nicht bloß eine diskursive Konstruktion zur Herstellung einer »weißen« bzw. »europäischen« Überlegenheit und Hegemonie in der Welt, die nebenbei noch die Beherrschung subalterner Milieus in den kolonisierenden Gesellschaften vereinfachen sollte. Diese Hegemonie diente vielmehr der Erschließung von Absatzmärkten und Rohstoffen und etablierte in diesem kapitalistischen Verwertungsinteresse eine bis heute anhaltende globale Ungleichverteilung von Macht und Reichtum. Sie betrieb und förderte auch die langfristige Globalisierung von menschlicher Mobilität und Warenströmen einschließlich wesentlicher Erweiterungen des Angebots an Nahrungs- und Genussmitteln und sonstigen Gütern in den Metropolen.[1] In diesem Rahmen förderte sie eine über Waren vermittelte soziokulturelle Integration der sozialen Klassen trotz fortbestehender sozialer Ungleichheit. Ein wesentlicher Motor dafür war die Verteilung der natürlichen Reichtümer und daraus gefertigter Waren aus den eigenen und anderen Kolonien auch in sozial benachteiligten Stadtteilen wie dem heutigen Kreuzberg und Friedrichshain.

Zwar waren die großen kolonialen Institute und (meist von städtischen Honoratioren betriebenen) Vereine ebenso wie das Deutsche Kolonial-Haus als größtes auf Kolonialwaren spezialisiertes Kaufhaus in den wohlhabenderen westlichen Stadtvierteln angesiedelt. In der Deutschen Kolonialgesellschaft mit ihren 43.000 Mitgliedern und 170 Ortsgruppen etwa wohnte 1914 kein einziges Mitglied des Berliner Ausschusses oder gar des umfänglichen Vorstands östlich von Mitte[2] – mit Ausnahme einiger weniger Bewohner des westlichsten Endes von Kreuzberg um die Dessauer Straße. Auch fanden die Kolonialausstellungen eher am Stadtrand auf geeigneten noch unbebauten Flächen statt. Einen gewissen räumlichen Bezug zu Kreuzberg hatte die Gewerbeausstellung im Treptower Park von 1896. Diese bot dem zahlenden Publikum einen in Abstimmung mit der ägyptischen Regierung erstellten Ausstellungsbereich namens »Kairo«, der neben einer 30 Meter hohen Pyramide, einer Straßenszenerie und kulinarischen Genüssen vergnügliche und ernsthafte Vorführungen und Vorträge bot. Außerdem gab es eine umfängliche Kolonialausstellung mit mehreren Dorfnachbauten (Dualla, Neuguinea, Südsee, Ostafrika und Hottentotten), für die eine besondere Eintrittskarte erforderlich war.[3] Es ist davon auszugehen, dass auch in Kreuzberg und Friedrichshain Wohnende die Attraktionen dieser Ausstellung besucht haben. Daneben gab es in Kreuzberg und Friedrichshain durchaus direktere Verbindungen zum deutschen Kolonialismus und zur expansiven Globalisierung, und zwar auf zwei verschiedenen Ebenen.

Seit den 1850er Jahren entwickelte sich im Kiez um die Ritterstraße ein Viertel mit gemischter Gewerbe- und Wohnbebauung, in dem große Gebäude mit mehreren Hinterhöfen dominierten. Nach der Errichtung des Ritterhofs 1905 entwickelte sich eine spezifische Mischung aus Produktionsstätten in den Hinterhöfen und Schauräumen und Musterlagern in den Vorderhäusern. Da diese Musterschauen zunehmend auch in großen, aufwendig gestalteten Schaufenstern beworben wurden, bekam die Ritterstraße selbst den Spitznamen »Goldene Meile«. Die Hauptbranchen waren Glas und Porzellan, Haus- und Küchengeräte,  Papier- und Lederwaren, Spielzeuge, Metallwaren usw.[4]

Insbesondere im Bereich der Galanterie- und Schmuckwaren wurden koloniale Rohstoffe verarbeitet, namentlich Silber und Elfenbein. Da zur damaligen Zeit (und bis zur Einschränkung des Elfenbeinhandels 2013) Elefanten ohne Rücksicht auf ethische oder ökologische Erwägungen erlegt werden konnten, war Elfenbein zunächst ein zwar exotisches und ästhetisch ansprechendes, aber durchaus preiswertes Material. Verarbeitet wurden die meist aus Afrika stammenden Stoßzähne unter anderem von der Werkstätte für Elfenbeinkunst Preiß & Kassler. Die Firma hatte bis Mitte der 1920er Jahre in der Boxhagener Straße Elfenbeinrosen und ähnliche Dekorationselemente aus alten Billardkugeln hergestellt. In der Ritterstraße stellte sie international recht erfolgreiche, hochpreisige Figurinen aus Elfenbein, Bronze, Silber und Zelluloselack her. Die Motive hatten wenig bis nichts mit dem kolonialen Herkunftsort des Rohmaterials zu tun: Meist wurden junge Frauen, Mädchen oder Jungen im Stile des Art Déco dargestellt. Selten findet sich einmal eine dunkelhäutige, wie immer äußerst schlanke Dame, die als amerikanisch-europäische Revuetänzerin gezeigt wird und an die in den 1920ern auch in Berlin äußerst populäre Josephine Baker angelehnt scheint. Daneben wurden Figuren »orientalischer Diener« angeboten. Koloniale Motive im eigentlichen Sinne fehlen ansonsten völlig, wurden aber mitunter in der Musterausstellung zur Präsentation und exotischen Aufwertung der Erzeugnisse herangezogen. Im Jahre 1930 besorgte die Firma Holzschnitzereien und Rosen aus Elfenbein für die erneuerte Innenausstattung der Schauräume der Firma Sarotti. Einige weitere Unternehmen im Exportviertel um die Kreuzberger Ritterstraße verwendeten ebenfalls koloniale Rohstoffe: Wild & Wessel stellten seit 1855 zunächst in der Alexandrinenstraße, dann an der Prinzenstraße patentierte Petroleumlampen für den häuslichen Gebrauch her; in den 1860er Jahren lieferte die Firma zudem Laternen für die Straßenbeleuchtung in Moskau, die Fa. Alexander Heinrich stellte im Musterlager Ritterstraße 84 Jute-Teppiche sowie Silberwaren aus.

Der Bezug zu Kreuzberg und Friedrichshain war hier beschränkt: Wie es der Bezeichnung Exportviertel ziemte, richteten sich die um die Ritterstraße angesiedelten Betriebe und Musterläger vor allem an externe deutsche und ausländische Ankäufer. Preiß & Kassler etwa lieferten in erster Linie nach England und in die USA; bis heute sind gebrauchte Stücke und Kopien vor allem dort zu finden. Allerdings gab es im Stadtteil durchaus auch Hersteller, die koloniale Rohstoffe für den einheimischen Bedarf verarbeiteten. So waren es abseits des Exportviertels am Friedrichshainer Spreeufer an der Mühlenstraße um 1900 einige Gummiwarenhersteller tätig, die Kautschuk aus dem brasilianischen Parà sowie vor dem Ersten Weltkrieg aus Togo und Deutsch-Ostafrika verarbeiteten.[5] Daneben gab es in der Köpenicker Straße zwei Firmen, die Knöpfe und andere Gegenstände aus polynesischer Steinnuss, Muscheln und Perlmutt herstellten:[6] Deutsche und andere Kolonien lieferten in einem globalen Warenfluss neuartige Rohstoffe, die sich zu den unterschiedlichsten Luxus- und Gebrauchsartikeln verarbeiten ließen. Daneben spielte die Mühlenstraße auch eine Rolle bei der Nutzung der imperialen Erweiterungsräume im Osten: Seit 1856 betrieb die Firma Cäsar Wollheim ein Kohlelager an der Mühlenstraße; ab 1895 betrieb das Unternehmen im schlesischen Zabrze eine Brikettfabrik.[7]

Ein wenig bekanntes (und bislang nicht als solches ausgewiesenes) Baudenkmal mit Bezug zu kolonialer Ausbeutung ist die Dessauerstr. 28/29. Bis 1914 hatten hier mehrere Firmen ihren Sitz, die sich der Verwertung von Ressourcen in Deutsch-Ostafrika (heute Ruanda, Tansania und Burundi) widmeten. Das Gebäude wurde 1908/09 als Vorderhaus mit zwei Hinterhöfen erbaut und war eines der ersten Berliner Bürogebäude, dessen Räumlichkeiten an interessierte Firmen vermietet wurden. 1912 wurde es um einen Seitenflügel und eine zweite Straßenfront an der Schöneberger Straße erweitert. Hier wirkten neben einer Handelsbank für Ostafrika und einer weiteren Deutsch-Ostafrikanischen Bank sowie der 1885 gegründeten Deutsch-Ostafrikanischen Gesellschaft ein Handelsunternehmen für Sisal, Kautschuk und Baumwolle, die Deutsche Holz-Gesellschaft für Ostafrika und das Usambara-Magazin. Das letztgenannte Unternehmen handelte mit Kaffee, der unter seiner Leitung von deutschen Kolonisten mit einheimischen Arbeitskräften – zum Teil Zwangsarbeitern – in den tansanischen Bergen angebaut wurde. Ähnlich verhielt es sich mit dem ostafrikanischen Baumwollanbau.[8]

Da zur Kontrolle der einheimischen Arbeitskräfte sowie für bestimmte Arbeiten deutsche Arbeitskräfte bevorzugt wurden, handelte man in der Dessauerstraße außerdem mit humanen Ressourcen: Seit 1908 bestand hier eine Arbeiter-Anwerbe-Gesellschaft, die deutsche Arbeiter in die Kolonien vermittelte. Hinzu kam die Ostafrikanische Gasthausgesellschaft Kaiserhof, die ein gleichnamiges Etablissement in Daressalam betrieb.[9] Mehrere dieser Firmen waren miteinander verbunden bzw. waren von den gleichen Personen – namentlich Caesar Wegener, Julius Warnholtz (Banken), Wilhelm Holtzmann und Fritz Greiner (Gasthof und Kaffee) – gegründet worden. Warnholtz, der in Hamburg eine Reederei betrieb, hatte 1903 zudem an gleicher Adresse die in Deutsch-Südwestafrika (Namibia) aktive Gibeon Schürf- und Handelsgesellschaft mbH gegründet. Außerdem gehörte er dem Aufsichtsrat der Deutschen Kolonialschule für Landwirtschaft, Handel und Gewerbe im nordhessischen Wilhelmshof an.

In der Dessauerstraße 28/29 saßen zudem in Deutsch-Südwest tätige (und 1914 ebenfalls in Liquidation befindliche) Minengesellschaften, namentlich das 1905 gegründete Nama-Land-Schürf- und Guano-Syndicat und das 1910 entstandene Sphinx-Minen-Syndikat. Bereits 1914 befanden sich diese letztgenannten Firmen in Liquidation. Damit deutete sich das Ende der Hoffnungen an, in Namibia nennenswerte Bodenschätze ausfindig machen und ausbeuten zu können. Wegen seines Charakters als frühes typisches Berliner Bürogebäude steht das 1990 wieder aufgebaute und umgebaute Haus heute unter Denkmalschutz; die Baudenkmalliste erwähnt die koloniale Vergangenheit einiger der ersten Mieter allerdings nicht. Es hat daher seine ganz eigene Ironie, dass der Bau nun von den Botschaften, der Dominikanischen Republik und Costa Ricas sowie des Senegal genutzt wird.

In den Handelsfirmen der Dessauerstraße deutet sich an, in welchem Maße die Ausbeutung eigener und fremder Kolonien in die Erweiterung von Warenangeboten und damit in die Entwicklung der Konsumgesellschaft einflossen. Eine weitere wichtige Rolle spielte dabei der Einzelhandel: Während sich noch bis ins frühe 19. Jahrhundert hinein Land- und Stadtbevölkerung weitgehend selbst oder über Tausch mit Lebensmitteln und Verbrauchsgütern versorgten, bedingten der Siegeszug des Kapitalismus mit dem Übergang zu massenhafter Lohnarbeit und die damit einhergehende Zuwanderung in die Städte die Notwendigkeit einer warenförmigen Distribution lebensnotwendiger Güter. In der »zweiten Einzelhandelsrevolution« in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts wurde der tägliche bzw. Wochenmarkt vom stationären Einzelhandel abgelöst.[10] Die sich entwickelnde Konsumgesellschaft trug dabei ganz wesentlich zur Kolonisierung nichtbürgerlicher sozialer Sphären bei – als Absatzmärkte, als Missionsgebiete für bürgerliche Werte und Verhaltensweisen, aber auch als Produktionsorte neuer, in Waren transformierbarer Kulturgüter. Der europäische – und ab den 1880er Jahren deutsche – Kolonialismus als Konstituente der neuzeitlichen Globalisierung bewirkte in diesem Kontext eine wesentliche Erweiterung des Warenangebots, und zwar in zunehmendem Maße auch für den Massenkonsum. Der mitunter skandalisierte Begriff des »Kolonialwaren« war von Anfang an unscharf und nur unzureichend von »Produktenwaren«, d.h. Erzeugnissen der einheimischen Landwirtschaft, und »Materialwaren«, d.i. Erzeugnissen von Handwerk und Industrie, geschieden.[11] Laut Meyers Konversationslexikon von 1887 waren »Kolonialwaren« im groben »die rohen Produkte der wärmeren Länder, namentlich Kaffee, Zucker, Tee, Reis, Gewürze, Farb- und Möbelhölzer, Arzneimittel und Baumwolle.«[12] Der Begriff wurde seit dem späten 19. Jahrhundert bis in die 1970er Jahre hinein vom Lebensmittel-, insbesondere Feinkosthandel verwendet und bezeichnete eine ganze Reihe von Genussmitteln und Verbrauchsgütern von Zucker über Tabak bis hin zu Kaffee, Schokolade, Kokos, Baumwoll-, Jute- und Sisalprodukten. Obschon es sich um Läden mit einem gewissen Qualitäts- und Luxusanspruch handelte, bedienten sie als »Tante-Emma-Läden« in erster Linie den lokalen Bedarf der Mittel- und Unterklassen an Nahrungs- und Genussmitteln. Meist wurden sie von Arbeiterfrauen und Arbeiterinnen betrieben, deren Familien genügend Geld für eine kleine Selbständigkeit angespart hatten oder eine prekäre Handelstätigkeit zur Aufbesserung magerer Löhne betrieben. Daneben gab es Firmen wie Butter-Klawe, einen in der Mauerstraße 85 ansässiger Händler, der um 1906 bereits zwei Filialen in Kreuzberg betrieb und neben Wein und Butter selbstgerösteten Kaffee und nicht näher spezifizierte Kolonialwaren anbot.[13]

Ausdruck und Motor dieser Entwicklung war die Gründung einer »Einkaufsgenossenschaft der Colonialwaarenhändler im Halleschen Thorbezirk«, mit Sitz in der Mittenwalder Straße 12, im Jahre 1898:[14] Mehr als 20 lokale Kolonialwaren-, Delikatessen- und Lebensmittelhändler schlossen sich zusammen, um gemeinsam günstiger Waren an- und dementsprechend günstiger verkaufen und auf diese Weise sowohl gegen die aufkommenden großen Warenhäuser als auch gegen die aus der christlichen Arbeiterbewegung kommenden Konsumvereine bestehen zu können.[15] Die Kreuzberger Genossenschaft hatte Pioniercharakter: 1901 verzeichnete der Nachtrag zum Berliner Adressbuch eine zweite Gründung »im Osten und den angrenzenden Bezirken Berlin‘s« in der Friedrichshainer Gubener Str. 56,[16] der Nachtrag erwähnte eine weitere für den Norden.[17] Das Konzept war so erfolgreich, dass es rasch in die besseren Stadtviertel umzog: Schon 1907 firmierte eine Einkaufsgenossenschaft der Berliner Colonialwaarenhändler zu Berlin am Kürfürstendamm 113;[18] im gleichen Jahr wurde in Leipzig ein reichsweiter Unternehmensverband ins Leben gerufen, dessen Name Edeka letztlich auf die Kreuzberger Gründung zurückging. Eine Berliner Genossenschaft bestand weiter als Einkaufszentrale und Verkaufsverband der Berliner Kolonialwarenhändler, nun mit Sitz in der Teltower Str. 46.[19]

Der Zusammenschluss von Einzelhändlern gerade in diesen einkommensschwächeren Bezirken macht deutlich, in welchem Maße der Konsum von Waren, die oder deren Rohstoffe aus europäischen Kolonien oder Nationalstaaten des Trikont stammten, zum Massenkonsum wurde, der alle Bevölkerungsschichten einbezog. Dabei ist zu berücksichtigen, dass die häufig von nicht ausgebildeten Händler/innen betriebenen Kolonialwarenläden ihrer weniger bemittelten Kundschaft auf Kredit verkauften – d.h. »anschreiben« ließen und daher eine wichtige soziale und distributive Funktion gerade in Stadtteilen wie Kreuzberg und Friedrichshain erfüllten.[20] Zwar bedeutete die alltägliche Verfügbarkeit von Nahrungs- und Genussmitteln noch nicht, dass ihr Konsum eine Selbstverständlichkeit war: Kakao, Schokolade, Spezereien und Tabak waren eher Genussmittel denn Alltagsbedarf. Auch Kaffee wurde im Deutschen Reich über lange Zeit eher bei besonderen Gelegenheiten bereitet. Davon zeugt nicht nur der anhaltende Erfolg von Kaffee- und Teehäusern, sondern auch der Umstand, dass noch 1913 im Deutschen Reich mehr als doppelt so viel »Kaffeeersatz« aus geröstetem Getreide und Zichorien als »echter« Kaffee verbraucht wurde.[21]

Eine weitere Besonderheit der Kolonialwaren bestand darin, dass sie – in etwa zeitgleich mit Erzeugnissen der einheimischen Nahrungsmittelindustrie wie Maggi u.a. – in teils aufwendig gestalteten Verpackungen mit entsprechender Dekorierung und leicht wiedererkennbaren Firmenlogos angeboten und entsprechend beworben wurden. Selbstverständlich verwendeten gerade Tabakwaren-, Kaffee-, Tee- und Schokoladenhersteller und -vertreiber gerne orientalisch-exotische Motive wie den erwähnten Sarotti-Mohr, orientalische Motive bei »blonden« Zigaretten und ließen dabei das Publikum über die Bedingungen, unter denen diese Waren produziert wurden, im Unklaren. Der Kolonialwarenladen vertrieb damit nicht nur Nahrungs- und Genussmittel. Er vermittelte auch Sehnsüchte nach einer imaginierten Ferne, einem zeitweisen oder dauerhaften Ausstieg aus dem Alltag, den sich auch Eliten in Kolonien und abhängigen Gebieten zunutze machten: Ein Großteil der ab dem späten 19. Jh. im Deutschen Reich sehr beliebten »Orient-Zigaretten« wurde von osmanischen bzw. ägyptischen Firmen wie den Gebrüdern Kyriazi produziert und mit verkaufsfördernd orientalistischer Gestaltung versehen. Erst nach dem Ersten Weltkrieg übernahmen deutsche und später amerikanische Tabakkonzerne den Markt.[22] Mit den 1970er Jahren verschwand der Kolonialwaren-Einzelhandel im Zuge von ökonomischen Konzentrationsprozessen, in denen unter weitgehender Aufgabe der alten Einzelhandelsform lediglich konzernähnliche Zusammenschlüsse wie Edeka bestehen konnten.

Das Angebot an Kolonialwaren als besonders begehrenswertes Gut schuf materielle Begehrlichkeiten, die das Prinzip der Barzahlung durchsetzten und legte wesentliche Grundlagen der modernen Konsumgesellschaft mit seinem Versprechen, Waren vermittelten neben ihrem Gebrauchswert immaterielle Glückselemente und erfüllten Sehnsüchte nach einem irgendwie anderen Leben. Andere Kolonialwaren wie Rohrzucker, der allerdings zunehmend von einheimisch produziertem Rübenzucker verdrängt wurde, wurden über entsprechende Werbung so alltäglich, dass sie ihren exotischen Aspekt praktisch völlig verloren (Wendt 2021).[23]

Die unterschiedlichen Ebenen des Handels mit und der Verarbeitung von Rohstoffen aus kolonisierten und abhängigen Gebieten zeigen, in welchem Maße der europäische Kolonialismus als Globalisierungselement eine wesentliche Grundlage für einer tiefgreifende Umformung der deutschen (und europäischen) Gesellschaften im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert gewesen ist: Er bildete die Grundlage für neue Produktionsbereiche, die auch in den gemischten Gewerbegebieten Kreuzbergs und Friedrichshains angesiedelt waren. In der Dessauerstraße residierten Firmen, die führend in der (teils scheiternden) Ausbeutung der deutschen Kolonien in Afrika waren oder werden wollten. Der in Kreuzberg und Friedrichstraße zur Grundversorgung der Bevölkerung in seinem Existenzkampf gegen Großhandel, Kaufhäuser und proletarische Konsumvereine unentbehrliche Einzelhandel schuf nicht zuletzt mit seinem Angebot an Kolonialwaren die Grundlage für eine auf ungleicher Entwicklung aufbauenden Konsumgesellschaft, die auch proletarische und subproletarische Milieus einschloss.

provided by FHXB Friedrichshain-Kreuzberg Museum

Michael G. Esch

ORT

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Ritterstraße 84, Dessauerstr. 28/29, Mittenwalder Straße 12, Gubener Str. 56, Teltower Str. 46, Boxhagener Straße, Alexandrinenstraße, Prinzenstraße, Köpenicker Straße, Mühlenstraße, Schöneberger Straße, Friedrichstraße

Zitieren des Artikels

Michael G. Esch: Der „Colonialwaren“-Handel in Kreuzberg. In: Kolonialismus begegnen. Dezentrale Perspektiven auf die Berliner Stadtgeschichte. URL: http://kolonialismus-begegnen.de/geschichten/1898-der-handel-mit-colonialwaren-erreicht-den-bezirk/ (16.07.2021).

Literatur & Quellen

 

[1] Vgl. Osterhammel, Jürgen: Die Verwandlung der Welt. Eine Geschichte des 19. Jahrhunderts. München: 2009. C.H. Beck. S. 335ff.; Pfeisinger, Gerhard/Schennach, Stephan (Hg.): Kolonialwaren. Die Schaffung der ungleichen Welt. Göttingen: 1989. Lamuv.

[2] Vgl. Kolonial-Handels-Adreßbuch 1914. Jg. 18. Berlin: 1914. Wilhelm Süsserott.

[3] Vgl. Niedbalski, Johanna: Die ganze Welt des Vergnügens. Berliner Vergnügungsparks der 1880er bis 1930er Jahre. Berlin: 2018. be.bra. S. 245-262.

[4] Vgl. Lobes, Lucie: Exportviertel Ritterstraße. In: Institut für Raumforschung Bonn (Hg.): Die unzerstörbare Stadt. Die raumpolitische Lage und Bedeutung Berlins. Köln/Berlin: 1953. Carl Heymanns Verlag. S. 201-210; Lanwer, Agnes: Exportviertel Ritterstraße. In: Eva Brücker u.a. (Hg.): Geschichtslandschaft Berlin. Orte und Ereignisse. Kreuzberg. Berlin: 1994. Nicolai. S. 251-264.

[5] Vgl. Uebel, Lothar: Spreewasser, Fabrikschlote und Dampfloks. Die Mühlenstraße am Friedrichshainer Spreeufer. Unter Mitarbeit von Laurenz Demps und Angela Harting. Berlin: 2009. Anschutz Entertainment Group. S. 3ff., 68ff.

[6] Kolonial-Handels-Adressbuch: II. Theil: Ausfuhr aus den Kolonien. 2. Jg. Berlin: 1898. E.S. Mittler & Sohn. S. 22. Online: https://digital.zbmed.de/wunschdigi/periodical/structure/3789742 (Zugriff: 10.07.2021)

[7] Vgl. Uebel: 2009: S. 11-14; 62ff.

[8] Vgl. Kolonial-Handels-Adressbuch 1898: 8; Gründer, Horst: Geschichte der deutschen Kolonien, Paderborn u.a. 1985. Ferdinand Schöningh. S. 157ff.

[9] Vgl. Kolonial-Handels-Adressbuch 1914.

[10] Vgl. Pfister, Ulrich: Vom Kiepenkerl zu Karstadt. Einzelhandel und Warenkultur im 19. und frühen 20. Jahrhundert. In: Vierteljahrschrift für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte , 2000, 87. Bd., H. 1. S. 38-66.

[11] Meyers Großes Konversations- Lexikon, 4. Auflage, 16. Band, Leipzig: 1908. Verlag des Bibliographischen Instituts. S. 366.

[12] Meyers Großes Konversations- Lexikon, 4. Auflage, 9. Band, Leipzig: 1887. Verlag des Bibliographischen Instituts. S. 954.

[13] Vgl. Estler-Ziegler, Tania: Kleinstbestände im BBWA – Butter-Klawe in der Mauerstraße, 10.10.2017. In: Archivspiegel. Weblog des BBWA. Online: https://www.archivspiegel.de/archivgut/kleinstbestaende-im-bbwa-butter-klawe-in-der-mauerstrasse/ (Zugriff: 10.07.2021).

[14] Adressbuch der Stadt Berlin. Nachtrag. 1899. S. 14. In: Adressbücher der Stadt Berlin. Online: https://digital.zlb.de/viewer/search/-/-/1/-/DC%253Aberlin.adressundtelefonbuecher%253B%253B/ (Zugriff: 10.07.2021).

[15] Vgl. Pfister 2000: 47.

[16] Adressbuch der Stadt Berlin 1901: S. 314.

[17] Vgl. Adressbuch der Stadt Berlin 1901. Nachtrag: S. 13.

[18] Adressbuch der Stadt Berlin 1907: S. 454.

[19] Vgl. Adressbuch der Stadt Berlin 1913: S. 239.

[20] Vgl. Wernicke, Johannes: Kleinhandel, Konsumvereine und Warenhäuser. In: Jahrbücher für Nationalökonomie und Statistik 3.F. 14.1897. S. 712 – 744, hier S. 714f., 720; Steinborn 1935: 43ff.; Haupt, Heinz-Gerhard: Besitz und Selbstständigkeit als Teil von Arbeiterstrategien im 19. und 20. Jahrhundert. Beispiele aus West- und Südeuropa. In: Geschichte und Gesellschaft, April – Juni 2017, 43. Jahrg., H. 2, Arbeit und Kapitalismus. S. 240-263, hier S. 256.

[21] Kleinschmidt 2008: 71

[22] Vgl. Rahner, Stefan/Schürmann, Sandra: Aufstieg und Fall der Orient-Zigarette. In: Stiftung Historische Museen Hamburg. Online: https://shmh.de/de/hamburgwissen/journal/aufstieg-und-fall-der-orient-zigarette (Zugriff 10.07.2021).

[23] Vgl. Wendt, Reinhard: Die Verzuckerung der Welt. In: Zeitschrift für Ideengeschichte, XVI/1, Thema: Kolonialwaren. München: 2021. C.H. Beck. S. 26-35.

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