Son Kijŏng: Marathon-Olympiasieger von 1936

Dieser Beitrag setzt sich im dialogischen Format zusammen aus den Recherchen von Linh Müller und Dagmar Yu-Dembski, die im Frühjahr 2023 verstarb. Linh Müller war es möglich, mit einem ersten Entwurf Dagmar Yu-Dembskis zu Son Kijŏngs Marathonsieg weiterzuarbeiten. Die finale Version des Textes ist somit nicht von Dagmar Yu-Dembski abgenommen. Um die Integrität ihrer Arbeit zu achten, sind die von Dagmar Yu-Dembski verfassten Passagen durch Einrücken gekennzeichnet.

 

Am 9. August 1936 gewinnt Son Kijŏng den olympischen Marathon in Berlin. Er ist Koreaner, aber läuft unter japanischer Flagge, da Korea zu diesem Zeitpunkt eine japanische Kolonie ist. Seine Zeit in Berlin nutzt Son, um politische Zeichen zu setzen und den antikolonialen Kampf voranzutreiben. In Korea wird er dadurch zum Symbol des Widerstands.

 

Der Marathonlauf

Auf den Steintafeln am Olympiastadion, welche die Namen aller Gewinner*innen der Olympischen Spiel 1936 aufführen, liest man heute: „Marathonlauf 42195m Son Japan“. Son Kitei, ein Läufer des japanischen Nationalteams, hatte den Marathon für sich entschieden. Doch Son, im heutigen Nordkorea als Son Kijŏng (auch Sohn Kee-chung, 1912–2002) geboren, verstand sich eigentlich als Koreaner. Da Korea 1910 offiziell zur japanischen Kolonie geworden war, musste Son bei den Olympischen Spielen unter japanischer Flagge antreten.

Am 9. August 1936 fand mit dem Marathonlauf die klassischste Disziplin der Olympischen Wettkämpfe statt. Es war ein sonniger Tag. Die Fahnen im Stadion bewegten sich kaum im lauen Wind. 56 Läufer aus 27 Ländern traten im Kampf um olympische Medaillen gegeneinander an. Unter ihren waren auch vier Läufer aus Japan gemeldet. Nach dem Start durch das Olympische Marathontor und über das Maifeld, führte der Lauf zunächst fast dreißig Kilometer durch den Grunewald. Von dort ging es hinüber zur Avus. Die Autobahnkurve bildete den Wendepunkt zurück zum Stadion.

Son Kijŏng überquerte als Erster die Ziellinie. Während der Siegerehrung senkte er seinen Blick; der drittplatzierte Nam Sŭngnyong, ebenfalls Koreaner, der als Nan Shoryu für das japanische Team gelaufen war, tat es ihm gleich. Son platzierte außerdem den Eichensetzling, den er als Sieger überreicht bekam, vor seinem Trikot, um die japanische Flagge darauf zu verdecken.

Später sollte er über diesen Tag sagen: „Ich bin nicht für die Japaner gelaufen. Ich bin für mich gelaufen und mein geschundenes Volk.“[1]

 

Die Olympischen Spiele 1936 in Berlin

Unter großem propagandistischen Aufwand fanden im Sommer 1936 die Internationalen Olympischen Wettkämpfe auf dem Gelände des Olympiastadions statt. Bereits 1931 hatte das International Olympic Committee (IOC) die Olympiade nach Deutschland vergeben. Trotz verschiedener Proteste nach der Machtübernahme durch die nationalsozialistische Partei und Diskussionen über einen möglichen Boykott blieb das IOC bei seiner Entscheidung. Die Nationalsozialisten sahen die Olympischen Spiele als Gelegenheit, der Weltöffentlichkeit den trügerischen Eindruck einer weltoffenen und friedliebenden Reichshauptstadt zu präsentieren.

Unter anderem war es der Presse während der Olympischen Spiele verboten, übermäßig antisemitische und rassistische Beiträge zu veröffentlichen. Es durfte weder abwertend über die afroamerikanischen Sportler*innen aus den USA noch über jüdische Athlet*innen geschrieben werden. Zeitungen, die sich an diese Vorgabe nicht hielten, erhielten Strafen. Man versuchte auch, Anfeindungen in der Öffentlichkeit zu verhindern. Jedoch wurden in der gleichen Zeit etwa 600 Rom*nja und Sinti*zze in einem Lager am Berliner Stadtrand interniert, um sie vor den Tourist*innen der Olympischen Spiele zu verbergen.[2]

 

Son Kijŏngs Wahrnehmung in Deutschland

Wie die ikonischen Erfolge des afroamerikanischen Läufers Jesse Owens bot Son Kijŏngs Sieg Material, mit dem sich das nationalsozialistische Regime als weltoffen inszenieren konnte. So haben Son und Owens jeweils wichtige Rollen in Leni Riefenstahls Propagandafilm Olympia inne.[3] Gleichzeitig können die prominenten Erfolge zweier rassifizierter Menschen auch als Momente der Subversion der nationalsozialistischen Rassenideologie verstanden werden, da zwei »nicht-arische« Athleten die Wettkämpfe dominierten.

In der deutschen Presse wurde über Son und andere japanische Athlet*innen mit Bewunderung berichtet, aber zugleich exotisierende und rassifizierende Beschreibungen verwendet. Oft wurden sie als „zierlich“ oder „klein“ charakterisiert, ohne sich eigentlich in ihrer Statur wesentlich von europäischen Athlet*innen zu unterscheiden.[4] So beschreibt ein Artikel in einem zeitgenössischen Sammelalbum für Zigarettenbilder Sons Lauf wie folgt:

„Klein und leicht, begabt mit einem außergewöhnlich ergiebigen Schritt, der locker und ungekünstelt stundenlang beibehalten werden kann, bringt Son für diesen Langstreckenkampf die ganze Zähigkeit seiner Rasse mit. Die unerschöpfliche Geduld, die immer wieder bereit ist, neue und schwere Strapazen auf sich zu nehmen, die traditionsmäßige und vorbildliche Willensschulung der Japaner, bilden die Grundlagen der zielbewußt seit 1928 angestrebten Erfolge.“[5]

 

Son Kijŏng zwischen japanischem Imperialismus und koreanischem Widerstand

Sons Erfolg ermöglichte es dem japanischen Kaiserreich, sich mit einem Olympiasieger zu schmücken. Sons Sieg repräsentierte außerdem den Erfolg der japanischen Assimilationsstrategie, die vorsah, koloniale Subjekte vollends einzugliedern.[6] In Korea jedoch druckte eine große Tageszeitung ein Foto der Siegerehrung, auf dem die japanische Flagge auf Sons Trikot wegretuschiert worden war. Die Zeitung wurde daraufhin verboten und die Verantwortlichen bestraft, doch Son war bereits zum Symbol des koreanischen Widerstands auf der Weltbühne geworden.[7]

Noch heute wird Son als Nationalheld und Symbol des antikolonialen Widerstands in Südkorea gefeiert. Bei der Eröffnungszeremonie der Olympischen Spiele von 1988 in Seoul trug Son das olympische Feuer ins Stadion. Dass seine Goldmedaille auch heute Japan zugeschrieben wird, sorgt für Unmut. Gleichzeitig wird zaghaft, aber kritisch seine Rolle als Unterstützer japanischer Kriegsbestrebungen diskutiert.

 

Son Kijŏngs Zeit in Berlin

Son Kijŏng setzte nicht nur während seiner Siegerehrung ein Zeichen. Auch in seiner Freizeit folgte er seinen politischen Einstellungen.

So vermied Son es während seines Aufenthalts in Berlin, die Sportkleidung mit dem Aufdruck der japanischen roten Sonne auf weißem Grund zu tragen. Autogrammkarten unterschrieb er konsequent mit seinem koreanischen Namen.

Er vernetzte sich außerdem mit dem Koreaner An Ponggŭn, der aus einer prominenten katholischen Familie stammte und der ein Cousin des antikolonialen Nationalhelden An Chunggŭn war.

An, der einen chinesischen Pass besaß, hatte eine bewegte politische Vergangenheit vorzuweisen. Seit er im Jahr 1914 mit dem katholischen Missionar Pater Wilhelm Korea verlassen hatte, lassen sich seine Spuren an unterschiedlichen Orten nachweisen. Er hatte verschiedene Tätigkeiten als Dozent an Volkshochschulen und Museen in Deutschland angenommen, mit der Kommunistischen Partei Deutschlands (KPD) zusammengearbeitet und sich als politischer Aktivist publizistisch für seine Heimat eingesetzt.[8] Nach mehrmaligem Umzug innerhalb Berlins lebte er im Jahr 1936 als Fongkeng Han in einer Wohnung mit Ladengeschäft in der Kantstraße 132.[9] In der direkten Nachbarschaft seiner Wohnung befanden sich mehrere China-Restaurants, die er offenbar mit Tofu aus seiner eigenen Produktion versorgte.[10]

Während seines Aufenthalts in Berlin war Son mehrfach zu Gast in der Kantstraße. Er berichtete: „Wir genossen das gemeinsame Essen. Reis und Hühnersuppe mit Tofu, das uns seine deutsche Ehefrau servierte.“[11] Einen Tag nach dem Marathonlauf waren die beiden Medaillengewinner etwa zu einer privaten Feier in der Kantstraße 132 eingeladen. Dort entdeckte Son in den Räumlichkeiten die koreanische Nationalfahne, die er noch nie zuvor gesehen hatte:

„Ja, das ist unsere Flagge! Mein ganzer Körper zitterte, als hätte mich ein elektrischer Schlag durchzuckt. Ich hatte mein Vaterland verloren. Nun war es, als sähe ich das Gesicht dieser toten Nation. Doch trotz Unterdrückung und Überwachung war unsere noch am Leben. Das zeigte mir: Das koreanische Volk lebte noch!“[12]

Neben den Steintafeln zur Ehrung der Olympiasieger erinnert heute im Olympiapark auch eine Statue an Son Kijŏng, aufgestellt am Glockenturm vom Landessportbund und der südkoreanischen Son-Kijŏng-Stiftung. Auf dem Trikot der Bronzefigur ist eine koreanische Flagge abgebildet.

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Son Kijŏng verdeckt die japanische Flagge mit einem Eichensetzling bei der Siegesehrung. Olympiastadion Berlin, 1936. Sportbildarchiv Max Schirner im Sportmuseum Berlin

Dagmar Yu-Dembski

Linh Müller

ORT

Olympiastadion Berlin

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Olympiastadion Berlin

Zitieren des Artikels

Dagmar Yu-Dembski Linh Müller Son Kijŏng: Marathon-Olympiasieger von 1936. In: Kolonialismus begegnen. Dezentrale Perspektiven auf die Berliner Stadtgeschichte. URL: https://kolonialismus-begegnen.de/geschichten/son-kijong-marathon-olympiasieger-von-1936/ (18.06.2024).

Literatur & Quellen

[1] Spannagel, Lars: Olympische Geschichte in Berlin. Rückkehr unter wahrer Flagge. In: Tagesspiegel. 13.12.2016.

[2] Dieses Camp bestand bis 1943, als die Betroffenen nach Auschwitz deportiert und dort ermordet wurden. Krüger, Arnd/William Murray: The Nazi Olympics: Sport, Politics, and Appeasement in the 1930s. Champaign: 2003. University of Illinois Press. S. 24 f.

[3] Guttmann, Allen: Berlin 1936. The Most Controversial Olympics. In: Tomlinson, Alan/Young, Christopher (Hg.): National Identity and Global Sports Events. Culture, Politics, and Spectacle in the Olympics and the Football World Cup. Albany: 2006. State University of New York Press. S. 74.

[4] Law, Ricky W.: Runner-up. Japan in the German Mass Media during the 1936 Olympic Games. In: Southeast Review of Asian Studies, Bd. 31, S. 172. 2009.

[5] Cigaretten-Bilderdienst Altona-Bahrenfeld: Die Olympischen Spiele 1936, Bd. 2. Hamburg: 1936. S. 55.

[6] Vgl. Glade, Jonathan: Colonial Hero. Son Kijŏng in Narratives of Popular and National Korean History. In: Asian Studies Review. 2023.

[7] Vgl. Podoler, Guy: From the Berlin Olympics marathon to a park in Seoul. Sohn Kee-Chung and the construction of sports heritage in South Korea. In: Sport in Society. 2021.

[8] Hoffmann, Frank: Berlin Koreans and Pictured Koreans. Wien: 2015. Praesens. S. 10ff.

[9] Vgl. Berliner Adressbuch 1936 und 1939.

[10] Vgl. Hoffmann, Frank: Berlin Koreans and Pictured Koreans. Wien: 2015. Praesens. S. 31; Yu-Dembski: Chinesen in Berlin. Berlin: 2007. Bebra Verlag. S. 65.

[11] Zit. n. Hoffmann, Frank: Berlin Koreans and Pictured Koreans. Wien: 2015. Praesens. S. 31.

[12] Zit. n. Hoffmann, Frank: Berlin Koreans and Pictured Koreans. Wien: 2015. Praesens. S. 31f.

 

Allgemeine Verweise:

Brall, Dirk: Der traurigste aller Olympiasieger. Marathon in Berlin. In: DER SPIEGEL. 23.09.2016.

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