Das Indische Nachrichten- und Informationsbüro und antikoloniale studentische Politik

Im Frühjahr 1921 gründete Virendranath Chattopadhyaya (1880–1937), auch bekannt als „Chatto“, das Indische Nachrichten- und Informationsbüro (Indian News Service and Information Bureau, INSIB – im Folgenden wird diese Abkürzung bzw. kurz „das Büro“ verwendet) in Berlin. Über die nächsten fünf Jahre diente das Büro als Nachrichtendienst, der deutsche Leser*innen in seinen Publikationen mit Nachrichten über Indien und indische Leser*innen mit Nachrichten über Deutschland versorgte; es war aber auch eine Agentur zur Handelsförderung zwischen Deutschland und Indien; zudem war es ein Beratungsorgan für indische Studierende, die in Deutschland studieren wollten. Dadurch hatte das Büro eine besondere Position an der Schnittstelle zwischen europäischer Kolonialpolitik, antikolonialem Aktivismus und der Migration indischer Studierender nach Deutschland ­– zu einer Zeit, als Berlin das „Zentrum der anti-imperialistischen Bewegung“ und das Hauptquartier des internationalen Kommunismus war.[1] Am Berliner INSIB überlagerten sich Aktionen für die antikoloniale indische Unabhängigkeitsbewegung und seine Akteure suchten damit eine Verknüpfung zum Internationalen Kommunismus.

Während zur Geschichte indischer und antikolonialer Organisationen im Berlin der Weimarer Zeit vermehrt wissenschaftliche Fachliteratur veröffentlicht wird, ist dem INSIB bisher keine kritische historische Aufmerksamkeit gewidmet worden.[2]

Dieser Essay untersucht die Geschichte des INSIB auf Basis einer Fülle an Berichten der britischen und deutschen Geheimdienste, Memoiren und Zeitungsberichten, und wirft einen Blick auf die Überschneidungen von und Verbindungen zwischen indischer Migration und Antikolonialismus im Berlin der Weimarer Zeit. Dieser Text geht insbesondere Chattos antikolonialen Aktivitäten nach, die in engem Zusammenhang mit der indischen Unabhängigkeitsbewegung von Personen standen, die im Exil lebten und Politik betrieben.

Die indische revolutionäre Bewegung im Exil

Chatto lebte seit 1902 im Exil; im August 1914 kam er erstmals nach Berlin. Kurz darauf baute er dort das Indische Unabhängigkeitskomitee auf (Indian Independence Committee, IIC) – eine antikoloniale Organisation, die die britische Vorherrschaft in Indien mithilfe der Nachrichtenstelle für den Orient, einer Abteilung des deutschen Auswärtigen Amts (AA) während des Ersten Weltkriegs, stürzen wollte. Deutsche Unterstützung für die indische antikoloniale Bewegung war Teil der Strategie, das britische Empire durch Kriegsführung mittels antikolonialer Revolution zu destabilisieren.[3] Im Frühjahr 1917, als sich das Kriegsgeschehen durch den Kriegseintritt der USA und die russische Revolution im Februar 1917 wendete, wagten sich Chatto und Mandayam Prativadi Tirumal Acharya – ein weiterer indischer Revolutionsveteran, den Chatto seit 1908 aus London kannte – im Mai 1917 nach Stockholm und bauten dort das Indische Nationalkomitee (Indian National Committee) auf: Sie zielten darauf, beim Stockholmer Friedenskongress europäische Sozialist*innen für die Unabhängigkeit Indiens zu gewinnen. Beim Ende des Ersten Weltkriegs im November 1918 hatten das IIC und das Indische Nationalkomitee wenig für die Unabhängigkeit Indiens erzielen können. Während Chatto in Stockholm blieb, kehrte Acharya nach Berlin zurück und ging dann nach Moskau, um im Juli 1919 Vladimir Ilyich Lenin zu treffen und dessen Unterstützung für die indischen Freiheitskämpfe zu gewinnen. Die folgenden drei Jahre verbrachte er damit, sich in Sowjetrussland, Afghanistan und Zentralasien mit indischen Revolutionär*innen unterschiedlicher Überzeugungen zu vernetzen, darunter Pan-Islamisten, Bolschewist*innen und Anarchist*innen. Nachdem er den zweiten Kongress der Kommunistischen Internationalen (Komintern) im Juli und August 1920 besucht hatte, gründete Acharya mit Manabendra Nath Roy und weiteren Personen im Oktober 1920 in Taschkent die Indische Kommunistische Partei (Indian Communist Party, ICP), zerstritt sich aber kurz darauf mit Roy bezüglich der Ausrichtung des indischen Freiheitskampfes und wurde von der ICP ausgeschlossen.[4]

Im März 1921 reiste Chatto ohne Rückreisevisum kurz von Stockholm nach Berlin und durfte, vorgeblich aufgrund der Fortsetzung revolutionärer Aktivitäten für die indische Unabhängigkeit entgegen seinem Versprechen, sich politisch neutral zu verhalten, nicht wieder nach Schweden einreisen.[5] Chatto, der nun in der deutschen Metropole feststeckte, reaktivierte seine Verbindungen zu vielen seiner Mitstreiter*innen aus dem IIC, dazu zählten Bhupendranath Datta und Pandurang Sadashiv Khankhoje. Außerdem begann er eine romantische Beziehung mit Agnes Smedley, der radikalen kommunistischen US-amerikanischen Autorin, die kurz zuvor nach Berlin gekommen war.

Im Mai 1921 reiste eine Gruppe in Berlin lebender Inder*innen, darunter Chatto, Datta, Khankhoje sowie Smedley, nach Moskau, um die Differenzen zwischen Acharya und Roy bzgl. der Ausrichtung des indischen Unabhängigkeitskampfes auszuräumen und die Bolschewist*innen um ihre Unterstützung beim Umsturz der britischen Vorherrschaft in Indien zu bitten.  In der Zwischenzeit hatte Roy jedoch auf dem zweiten Kongress der Kommunistischen Internationale im Juli 1920 bereits die Aufmerksamkeit Lenins und der Bolschewiki auf sich gezogen und war zum prominentesten indischen Kommunisten geworden; folglich wurden Chattos Bitten an Lenin um bolschewistische Unterstützung für den indischen nationalen Befreiungskampf abgelehnt. Nachdem sie im Juni und Juli 1921 am dritten Kongress der Komintern in Moskau teilgenommen hatten, kehrten Chatto, Smedley, Datta und Khankhoje ohne Zusage zur Unterstützung ihres Anliegens nach Berlin zurück, und entschieden sich für eine andere antikoloniale Strategie.[6]

Das Indische Nachrichten- und Informationsbüro im Berlin der Weimarer Zeit

Kurz bevor sie 1921 nach Moskau reisten, versuchten Chatto, Datta und Khankhoje verschiedene indische revolutionäre Gruppierungen, die nach dem Ersten Weltkrieg immer noch in Berlin waren, unter einer neuen Indischen Revolutionären Gesellschaft (Indian Revolutionary Society) zu vereinen. Doch um eine Genehmigung (und potenzielle Förderung) von der deutschen Regierung zu bekommen, die Sorgen davor hatte, die britische Regierung könnte sich von solch einer offen anti-britischen revolutionären Organisation in Berlin gekränkt fühlen, verständigten sich die Initiator*innen auf einen Kompromiss, die neue Organisation unter dem Namen Indisches Nachrichten- und Informationsbüro (INSIB) zu führen. Aber das INSIB wurde nicht von der deutschen Regierung gefördert.[7]

Nach der Rückkehr von der enttäuschenden Moskau-Reise bezog das INSIB zunächst Büroräume in der Burgstraße 27 im Berliner Zentrum, zog kurz darauf aber in die Georg-Wilhelm-Straße 11 in Halensee im Bezirk Charlottenburg, von wo aus Chatto auch einen sogenannten Indischen Club betrieb. Smedley und ein weiterer, jüngst nach Berlin gekommener Inder, Narahari Govind Ganpuley, schlossen sich dem INSIB bald an, Ganpuley finanzierte sogar einen Teil der Aktivitäten.[8] Ganpuley erinnerte sich später:

„Das Informationsbüro war die einzige sichere Insel für mich in dieser weiten Stadt Berlin, und so verlor ich auch nicht mein Herz. Ungefähr zur selben Zeit begann Chattopadhyaya mit dem Gedanken zu spielen, eine Zeitschrift für Indien zu gründen. Er war wirklich ein Mann mit vielen Ideen und hatte auch eine erstaunliche Leistungsfähigkeit. Aber er traf seine Entscheidungen, ohne Pro und Contra der damit zusammenhängenden Themen abzuwägen.“[9]

Eine zentrale Strategie des Büros war das Werben für die indische Unabhängigkeit mit einer eigenen Zeitschrift. Die erste Ausgabe ihrer Publikation Indo-German Commercial Review erschien im Juli 1923, nun mit der Unterstützung von Arathil Candeth Narayanan Nambiar, Chattos Schwager, der mit seiner Schwester Suhasini Chattopadhyaya verheiratet war, die wiederum kurz zuvor nach Berlin gekommen war.[10] Im redaktionellen Vorwort merkten sie an, dass sich in Indien „abgesehen vom stetig wachsenden Willen nach nationaler Freiheit und politischer sowie ökonomischer Emanzipation von ausländischer Bevormundung, und stimuliert vom Krieg und seinen Nachwehen, auch einige bedeutende Dimensionen der industriellen Entwicklung ergeben haben, die sorgfältig beobachtet werden müssen.“[11] Ihrem Eindruck nach war die Zeit reif, „dass Indien ihre eigenen Informationsstellen im Ausland aufbauen sollte, anstatt Informationen über Wirtschaft, Wissenschaft, Industrie, Handel und Politik von Menschen zu beziehen, deren Interessen in den meisten Angelegenheiten denen der indischen Bevölkerung diametral entgegengesetzt sind.“[12] Hier wird deutlich, dass sie die Freiheit Indiens an Handelsbeziehungen zwischen Deutschland und Indien mit dem Argument knüpften, dass die britische Kolonialherrschaft in völligem Widerspruch mit den indischen Interessen standen. Der Historiker Nirode Barooah argumentiert, dass Chattos „Ziel war, zur Förderung des indischen Nationalismus beizutragen, indem er versuchte, den indischen Geist von an britischen Gepflogenheiten orientierten Vorlieben in den Bereichen Bildung, Handel, Industrie und Kultur zu befreien.“[13]

Doch bereits in der zweiten Ausgabe des Indo-German Commercial Review wurde angekündigt, dass der Titel der Zeitschrift ab der dritten Ausgabe Industrial Review for India lauten würde, um weder deutschen Einfluss zu signalisieren noch Vorwürfen ausgesetzt zu sein, deutsche Agent*innen zu sein; zudem übergaben sie die vorher beim INSIB angesiedelte redaktionelle Verantwortung an Nambiar und Ganpuley.

Chatto blieb im Hintergrund und kümmerte sich stärker um eine Vernetzung und politische Adressierung von indischen Studierenden, die nach Berlin kamen. In der Industrial Review for India hatte Chatto indische Studierende aktiv dazu ermuntert, nach Deutschland zu kommen. In den frühen 1920er-Jahren hielten sich fast zweihundert indische Studierende in Berlin auf, die zum größten Teil aus wohlhabendem Hause kamen und über Mittel verfügten, die Reise zu finanzieren, und die Deutschland als Zielland wählten anstatt das imperiale Großbritannien. Sobald sie in Berlin ankamen, wandten sich viele indische Studierende an Chatto, doch einige waren auf ein Leben in Deutschland nicht vorbereitet. Smedley erinnert sich wie folgt: „Die Studierenden kamen direkt von ihren Schiffen, mitsamt Bett- und Kochutensilien. Einige trugen merkwürdige Kleidungsstücke. Ein Studierender kaufte sich einen Frauen-Strohhut, von dessen Seite ein Traubenbündel hing; es sah mehr oder weniger aus wie ein Turban, und wir konnten ihn nur mit Mühe davon überzeugen, ihn nicht mehr zu tragen.“[14]

In der ersten Ausgabe der Zeitschrift verfasste Chatto detaillierte Informationen mit Hilfsangeboten für Studierende, warnte aber auch mit folgenden Worten: „Indische Studierende müssen sich darauf einstellen, harte körperliche Arbeit zu leisten und wie Arbeiter zu leben. Studentischen Arbeitern wird in der Regel kein Lohn gezahlt, und in Deutschland gibt es keinerlei Möglichkeiten für Studierende, die selbständig ihren Lebensunterhalt bestreiten müssen. Genauso wenig gibt es Spenden oder Stipendien für ausländische Studierende. Eine betriebliche Ausbildung ist neben dem Studium an einer Universität nicht möglich.“[15] Hier wurden auch ausführliche Informationen über das Leben in Deutschland veröffentlicht – Sprache, Kleidung, Unterkunft, Essen – und weiterhin hieß es, möglicherweise als Kontrast zum Rassismus der britischen Kolonialmacht: „In Deutschland gibt es keine Vorurteile aufgrund von Hautfarbe und auch keine rassistischen Vorurteile, und indische Studierende sind in deutschen Bildungsinstitutionen willkommen, sofern sie angemessen qualifiziert sind und es freie Plätze gibt.“ Gleichzeitig wurde auch darauf verwiesen: „[D]as Indische Nachrichten- und Informationsbüro, Ltd. ist eine rein indische Institution, die nur durch indische Gelder finanziert wird, daher wird von allen Studierenden oder Reisenden, die die Angebote des Büros in Anspruch nehmen, erwartet, einen Beitrag zu dessen Unterhaltungskosten zu leisten.“[16]

Die erste Ausgabe der Zeitschrift zog von mehreren Seiten Aufruhr nach sich. In Zeitungen, die Großbritannien nahestanden, wurden Bedenken darüber geäußert, dass sich nun unabhängige indische Agenturen in Deutschland etablierten und so britische Kanäle umgangen und potenziell untergraben wurden, sowie darüber, was als von Deutschland unterstützte Propaganda wahrgenommen wurde. In der Folge durfte die Zeitschrift, auch nach ihrer Umbenennung, nicht mehr nach Indien importiert werden.

Während Nambiar und Ganpuley sich hauptsächlich um die Zeitschrift kümmerten, konzentrierte Chatto sich darauf, indische Studierende mit seinem Indischen Club zu unterstützen, der sich im selben Gebäude wie das INSIB befand. Berichten des britischen Geheimdienstes ist zu entnehmen, dass Chatto erfolgreich zahlreiche Studierende anzog und bald zum bekanntesten altgedienten indischen Antikolonialisten Berlins wurde. Das Clubhaus mit Platz für vierhundert Personen beherbergte eine Bibliothek und Freizeitmöglichkeiten wie Billard und Tischtennis. Am anderen Ende der Stadt, am Baumschulenweg in Treptow, konnten die Studierenden Fußball oder Cricket spielen.[17]

Die britischen Behörden in Berlin waren besorgt über Chattos Einfluss auf diese Studierenden, weil sie annahmen, dass er Gelder aus Moskau erhielt. Sie baten das AA einzuschreiten. Die Vorwürfe der britischen Behörden, es bestünden Verbindungen zu Moskau, waren jedoch falsch. Das AA machte deutlich, dass es nichts mit den Aktivitäten der INSIB zu tun hatte und lehnte ein Einschreiten seinerseits ab. Dennoch gab das AA zu, dass Chatto und das INSIB großen Einfluss auf deutsche Universitäten und Verwaltungskreise nahmen und indische Studierende mit Hinweisen und Informationen unterstützten.[18] So setzten die Briten bei den deutschen Behörden durch, dass Referenzen des INSIB für indische Visaanträge nach Deutschland zu Ablehnungen führten.

Britische Behörden sahen jedoch weiterhin eine kommunistische Gefahr unter indischen Studierenden in Berlin, zumal Roy sich1922 erneut in Berlin niedergelassen hatte und von dort aus kommunistische Agent*innen und Material nach Indien schickte. Auch Abani Mukherji, der sich mit Roy zerstritten hatte, war zu diesem Zeitpunkt in Berlin. Trotzdem betrachteten die britischen Behörden in erster Linie Chatto als große kommunistische Gefahr und waren bestrebt, Chattos Aktivitäten in Berlin vollständig zu unterbinden. Im Herbst 1924 diskutierten britische Behörden mit deutschen über die Möglichkeit, Chatto, Roy, Mukherji, Acharya sowie weitere prominente Inder*innen aus Deutschland abzuschieben. Umfassende Korrespondenz zwischen britischen und deutschen Behörden folgte im Verlauf fast des gesamten folgenden Jahres. Doch weil Deutschland sich den Inder*innen gegenüber wegen deren Kollaboration im Ersten Weltkrieg zu einem gewissen Grad an Schutz verpflichtet sah und da Großbritannien diese Personen in Indien nicht frei agieren sehen wollte, wurde das Abschiebeverfahren 1925 eingestellt.[19]

Zu diesem Zeitpunkt hatten Chatto und Nambiar eine weitere Zeitschrift initiiert, die Industrial and Trade Review for India, mit Sitz in der Berliner Reichsstraße 104. Diese Zeitschrift folgte der Industrial Review for India in ihrem Ton und befasste sich inhaltlich mit einer Kombination aus Unternehmensnachrichten und antikolonialer Politik; aber auch diese durfte nicht nach Indien importiert werden und wurde im August 1926 eingestellt. Zu diesem Zeitpunkt war der Indische Club in der Georg-Wilhelm-Straße ebenfalls aufgelöst und die meisten, in Berlin lebenden Inder*innen waren zu Mitgliedern im Verein Hindusthan Association of Central Europe (HACE)[20] geworden. Ganpuley erinnerte sich an die Entscheidung, das INSIB einzustellen, mit folgenden Worten: „Es befand sich in einem abgelegenen Vorort Berlins und war zu groß, um als kleiner Verein mit begrenzten Ressourcen betrieben zu werden. Also haben wir [das Büro] nach und nach aufgegeben. Die Arbeit der Zeitschrift war ebenfalls zu Ende gegangen.“[21] Im Gegensatz dazu war HACE in den 1920er-Jahren eine zentrale studentische Organisation von und für Inder*innen, die indische Studierende verschiedener religiöser und politischer Überzeugungen anzog und das INSIB nach und nach bis Mitte der 1920er-Jahre ersetzte. HACE war weniger offen politisch – trotz Chattos Versuchen, den Verein zu übernehmen –, und organisierte regelmäßige soziale Anlässe wie Empfänge für prominente Inder*innen, die in Berlin zu Besuch waren, und baute Verbindungen zu weiteren Organisationen ausländischer Studierender in Berlin auf.[22]

Chatto gab trotz allem seine antikolonialen Aktivitäten nicht auf, brauchte jedoch finanzielle Unterstützung. Ende 1926 wurde Chatto, nachdem er zuvor Verbindungen zu Berliner Anarchist*innenkreisen geknüpft hatte, Mitglied der Deutschen Kommunistischen Partei und erneuerte seine Verbindungen mit der Komintern in Moskau.[23]      Er war nun in der Liga gegen koloniale Unterdrückung aktiv, die ihren ersten Kongress im Februar 1927 in Brüssel abhielt und damals unter dem Namen Liga gegen den Imperialismus (League Against Imperialism, LAI) operierte, finanziell von der Komintern gestützt wurde und nach Ansicht von Zeitgenoss*innen bald zur größten Bedrohung für den Imperialismus werden sollte, die die Welt bis dahin gesehen hatte. Die LAI und der Brüsseler Kongress wurden vom deutschen Kommunisten Willi Münzenberg ins Leben gerufen, als Reaktion auf das Bestreben der Komintern, engere Verbindungen zur kolonialen Welt aufzubauen. Chatto gelang es, Jawaharlal Nehru als Vertreter des Indian National Congress (INC) zum Kongress nach Brüssel einzuladen, und unterhielt enge Verbindungen mit dem berühmten indischen Politiker, der zu diesem Zeitpunkt in Europa lebte. Unter der Schirmherrschaft von HACE wurden die indischen, in Berlin lebenden Studierenden von Jaya Surya Naidu (Chattos Neffe), Khwaja Abdul Hamied und Monindra Kumar Sen – alle drei moderatere indische Nationalisten in Berlin – beim LAI-Kongress in Brüssel vertreten.

 

Das Indische Informationsbüro, studentische Politik und das Ende der Weimarer Zeit

Das INSIB wurde im Februar 1929 als Indisches Informationsbüro (Indian Information Bureau, IIB) reaktiviert, diesmal mit finanzieller Unterstützung von Nehru und dem Indian National Congress (INC); die Verantwortung für das Büro lag in den Händen von Nambiar. Weniger offen politisch als das INSIB, hatte das IIB auch Zuspruch für die Aktivitäten vom AA und unterstützte Studierende, die nach Berlin kamen. Nambiar zufolge versuchte Chatto, das IIB unter die Kontrolle der LAI zu bringen, aber Nambiar widerstand dieser Übernahme.[24] Nehru und der INC entzogen 1930 dem IIB ihre Unterstützung, vermutlich aufgrund von Nehrus Zerwürfnis mit Chatto bezüglich seiner Politik der LAI; Nambiar musste die Arbeit des IIB im Januar 1931 einstellen.[25] Sieben Monate später wurde Chatto vom Exekutivkomitee der Kommunistischen Internationale (EKKI) in die Sowjetunion einbestellt, um Rede und Antwort zu seinen Aktivitäten während des Krieges sowie zu seiner Verbindung mit dem unterdessen in Ungnade gefallenen Roy zu stehen. Chatto verdiente sich in dieser Zeit in der Sowjetunion seinen Lebensunterhalt als Lehrer, bis er im September 1937 bei den stalinistischen Verfolgungen ums Leben kam.[26]

Für die in Berlin lebenden Inder*innen bedeutete das Ende der Weimarer Zeit eine drastische Veränderung ihrer Stellung in Deutschland. Am Vorabend des Reichstagsbrands im Februar 1933 verhafteten deutsche Sturmtruppen Nambiar und Naidu wegen vorgeblichen Verdachts, sie seien Kommunisten. Allerdings wurden sie eine Woche (Naidu) bzw. einen Monat später (Nambiar) wieder freigelassen. Sie waren vermutlich in Kontakt mit kommunistischen Kreisen in Berlin, waren aber keine radikalen indischen Kommunisten. Innerhalb eines Jahres wurden sechs weitere Inder*innen festgenommen und wegen des Vorwurfs, Kommunist*innen zu sein, aus Deutschland ausgewiesen. Anfang 1934 hatte Chattos ehemaliger Mitstreiter Acharya Deutschland verlassen.[27] Das Ende der Weimarer Zeit markierte auch das Ende vom Leben und Handeln einer älteren Generation in Berlin lebender Menschen aus Indien, die für eine unabhängige indische Nation kämpften und Strukturen für eine antikoloniale Politik in der deutschen Metropole schufen.

Organisationen wie das INSIB resp. IIB sowie die mit ihnen assoziierten Publikationen entwickelten im Verlauf der 1920er-Jahre für im Exil lebende Inder*innen eine studentische antikoloniale Politik, die sie mit Handels- und Wirtschaftskonzepten zur Emanzipation von imperialen Strukturen verknüpften. Schlüsselfiguren wie Chatto und Nambiar arbeiteten unermüdlich daran, indisch emanzipatorische Interessen in Deutschland zu fördern. Doch ihre Aktivitäten wurden von den britischen und deutschen Behörden beobachtet und versucht zu unterbinden, in den frühen 1930er-Jahren mussten sie schließlich ihre Aktivitäten einstellen. Gleichzeitig hinterließen sie mit ihren Politiken Spuren im internationalen Kommunismus, indem sie ihr antikoloniales Engagement in die LAI eingebracht hatten. Doch genau dieses Engagement für Antikolonialismus und Kommunismus wurde ihnen zum Verhängnis, als die Nazis 1933 an die Macht kamen.

provided by FHXB Friedrichshain-Kreuzberg Museum

Dr. Ole Birk Laursen

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Zitieren des Artikels

Dr. Ole Birk Laursen: Das Indische Nachrichten- und Informationsbüro und antikoloniale studentische Politik. In: Kolonialismus begegnen. Dezentrale Perspektiven auf die Berliner Stadtgeschichte. URL: https://kolonialismus-begegnen.de/geschichten/das-indische-nachrichten-und-informationsbuero-und-antikoloniale-studentische-politik/ (04.09.2025).

Literatur & Quellen

 

[1] Petersson, Fredrik, „Hub of the Anti-Imperialist Movement“, in: Interventions: International Journal of Postcolonial Studies 16:1 (2014), S. 49­–71.

[2] Jonker, Gerdien, On the Margins. Jews and Muslims in Interwar Berlin, Leiden 2020; Laursen, Ole Birk, Anarchy or Chaos. M. P. T. Acharya and the Indian Struggle for Freedom, London 2023; Simonow, Joanna, „Sexing the history of Indian anti-colonial internationalism. White women, Indian men and the politics of the personal“, in: Gender & History (2024), S. 1–17. https://doi.org/10.1111/1468-0424.12801; Barooah, Nirode K., Germany and the Indians Between the Wars, Norderstedt 2018; Oesterheld, Joachim, „Aus Indien an die Alma mater berolinensis – Studenten aus Indien in Berlin vor 1945“, in: Periplus: Jahrbuch für Außereuropäische Geschichte 14 (2004), S. 191–200.

[3] Liebau, Heike, „The German Foreign Office, Indian Emigrants, and Propaganda Efforts Among the ‚Sepoys‘“, in Roy, Franziska; Liebau, Heike; Ahuja Ravi (Hg.), ‘When the War Began we Heard of Several Kings’: South Asian Prisoners in World War I Germany, London 2017, S. 96­–129; Manjapra, Kris K., „The Illusions of Encounter: Muslim ‘Minds’ and Hindu Revolutionaries in First World War Germany and After“, in: Journal of Global History 1:3 (2006), S. 363–82; Zachariah, Benjamin, „Indian political activities in Germany, 1914–1945“, in Cho, Joanna; Kurlander, E. und McGetchin, D. T. (Hgs.), Transcultural Encounters between Germany and India. Kindred Spirits in the 19th and 20th Centuries, London 2013, S. 141–154.

[4] Laursen, Anarchy or Chaos, S. 87–121.

[5] Barooh, Nirode K., Chatto: The Life and Times of an Indian Anti-Imperialist in Europe, New Delhi 2004, S. 137–142.

[6] Laursen, Anarchy or Chaos, S. 110–112.

[7] Brückenhaus, Daniel, Policing Transnational Protest: Liberal Imperialism and the Surveillance of Anticolonialists in Europe, 1905–1945, New York 2017, S. 121–122.

[8] „Politische und kulturelle Propaganda“, RZ 207/77461, Politisches Archiv des Auswärtigen Amts (PAAA); Barooah, Germany and the Indians Between the Wars, S. 12–37.

[9] Ganpuley, N. G., Ganpuley’s Memoirs, Bombay 1983, S. 43.

[10] „Orientals in Berlin and Munich: S I S and D I B reports“, India Office Records (IOR)/L/PJ/102, file 6303/22, British Library, London; Ganpuley, Ganpuley’s Memoirs, S. 44.

[11] „The Aim of the Review“, Indo-German Commercial Review 1:1 (Juli 1923), S. 2.

[12] Ibid.

[13] Barooah, Germany and the Indians between the Wars, S. 19.

[14] Smedley, Agnes, Battle Hymn of China, London 1944, S. 18.

[15] „Factory Training“, Indo-German Commercial Review 1:1 (Juli 1923), S. 27. H.i.O.

[16] „General Information“, Indo-German Commercial Review, 1:1 (Juli 1923), S. 27–28.

[17] „Orientals in Berlin and Munich: S I S and D I B reports“, IOR/L/PJ/102, file 6303/22.

[18] Barooah, Germany and the Indians Between the Wars, S. 21.

[19] Laursen, Anarchy or Chaos, S. 131–133; Barooah, Germany and the Indians Between the Wars, S. 12–23; „Indian political activity in Germany; deportation requests“, IOR/L/PJ/12/223, File 1387(a)/24.

[20] Das HACE hatte bis April 1927 keine feste Adresse; ab diesem Zeitpunkt befand es sich im Alexander-von-Humboldt-Haus in der Fasanenstraße 23, zusammen mit vielen anderen ausländischen Studierendenvereinigungen in Berlin.

[21] Ganpuley, Ganpuley’s Memoirs, S. 46.

[22] Laursen, Ole Birk, „Cosmopolitan Anticolonialism: The Transimperial Networks of the Hindusthan Association of Central Europe in Weimar Berlin“, Transimperial History Blog (14. März 2024), https://www.transimperialhistory.com/cosmopolitan-anticolonialism/

[23] Laursen, Ole Birk, „Agnes Smedley and the Indian anarchists in Weimar Berlin“, in: South Asian History and Culture 15:3 (2024), S. 283–296.

[24] Arathil Candeth Narayan NAMBIAR: Indian, KV 2/3904, The National Archives, Kew, United Kingdom.

[25] Barooah, Germany and the Indians Between the Wars, S. 75­–76.

[26] Petersson, Fredrik, „Hub of the Anti-Imperialist Movement“, in: Interventions: International Journal of Postcolonial Studies 16:1 (2014), S. 49­–71.

[27] Laursen, Ole Birk, „Unwanted Indians in Nazi Germany“, Value of the Past. https://doi.org/10.58079/11p1x. Letzter Zugriff: 26.8.2024.

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