Als Kolonialbeamter in Togo: Dr. Paul Grade (1856–1894)

Paul Traugott Reinhold Grade wurde am 13.11.1856 in Berlin geboren.[i] Sein Leben steht prototypisch für ein deutsch-nationales Bildungsbürgertum, das zwar an der Politik des Reiches interessiert und am Streben nach deutscher Größe beteiligt war, sich aber privat wie öffentlich auf seinen kleinen Kreis der Interaktion beschränkte, um seine Ambitionen nicht zu gefährden und ein Leben in Behaglichkeit führen zu können.[ii]

1879 bewarb er sich erstmals auf die Position eines „Aspiranten für den Legationskanzlistendienst“. Nach allem, was man aus späteren Unterlagen und Veröffentlichungen vermuten kann, ging es ihm um eine sichere, gut bezahlte Anstellung, welche er mit seinem Interesse an Sprachen verbinden konnte. Seinem Gesuch wurde mehrere Jahre lang nicht entsprochen.[iii] In dieser Zeit investierte Paul Grade in seine Weiterbildung und in seinen Aufstieg zum Reserveoffizier.[iv]

Im Kolonialdienst

Paul Grade gehörte zur ersten Generation von Kolonialbeamten im „Schutzgebiet“ Togo. Er wurde dem ersten nach Togo entsandten Kommissar, Ernst Falkenthal, als Sekretär zugeordnet („beigegeben“). Man könnte argumentieren, dass er seine ganze Karriere dem Umstand verdankte, dass das Deutsche Reich beschloss, fremde Territorien in Besitz zu nehmen, denn es scheint Probleme bei der Besetzung solcher Stellen gegeben zu haben, obwohl sie mit einer vergleichsweise hohen Entlohnung verbunden waren. Denn besonders in der frühen Phase hatte der Kolonialdienst keinen guten Ruf in der deutschen Beamtenschaft, er galt als gesundheitsgefährdend und als Tummelplatz zwielichtiger Figuren. Generell mussten die neuen Beamten des Reichs mit knappen Mitteln innerhalb kürzester Zeit eine zumindest minimale Verwaltung aufbauen.[v]

Grades Aufenthalt in Togo war geprägt von der schwierigen, unklaren Situation vor Ort (Personalmangel, unklare Territorialverhältnisse, Kompetenzstreitigkeiten unter den deutschen Beamten) und wurde mehrfach von schweren Erkrankungen unterbrochen. Die Informationen zu seinem Wirken im „Schutzgebiet“ sind widersprüchlich, unter anderem soll Grade 1886 am Abschluss von „Schutzverträgen“ mit den Herrschern der Gebiete Towe, Kewe, Agotime sowie Agome-Palime beteiligt gewesen sein. Andere Quellen bringen Grade mit dem Aufbau der Polizeitruppe, also dem Versuch, eine staatliche Zwangsinstanz zu etablieren, in Verbindung.[vi]

Im August und September 1887 unternahm Grade dann eine Expedition mit Dr. Ernst Henrici, dem „bekannten antisemitischen Agitator“.[vii] Diese Expedition hatte ungeahnte und für Grade unangenehme Konsequenzen, die zu einem Skandal und seiner Abberufung aus Togo führten.[viii] Der Leutnant der Reserve a. D. Richard Strensch, der zwar in die Reisevorbereitungen einbezogenen war, jedoch nicht an der Expedition teilnehmen durfte, beschuldigte Grade verschiedener Vergehen in der Kolonie.[ix] Er warf ihm unter anderem Beleidigung von kaiserlichen Beamten, diverse Nebengeschäfte, mangelhafte Amtsführung und Unterschlagung vor.[x] Auch der neue interimistische Kommissar von Togo Jesko von Puttkamer kritisierte die Amtsführung und die Arbeitsmoral Grades nachdrücklich.[xi]

Hier wird offenbar, dass es in der sehr kleinen Gruppe von Deutschen und Weißen in Togo wohl öfters zu persönlichen Spannungen und Rivalitäten kam. Schon Zeitgenossen übten Kritik an den Kolonialbeamten, insbesondere in Togo, wo anscheinend besonders enge Verbindungen zwischen den Beamten und der Kaufmannschaft bestanden.[xii]

Auf jeden Fall endete nach dieser Expedition Paul Grades Karriere in Togo mit einem Disziplinarverfahren. Ärztliche Atteste belegen, dass er schwer an Malaria und Schwarzwasserfieber erkrankt war. Daher verließ er Togo im Oktober 1887. Das direkte dienstliche Verfahren gegen Grade endete am 1889 mit einem strengen Verweis.[xiii] Am härtesten traf ihn die soziale Ächtung vonseiten des Militärs, denn Grade wurde 1890 mit einem schlichten Abschied aus dem Offiziersstand entlassen.[xiv]

Im Februar 1890 wurde er zum Legationskanzlisten im venezolanischen Caracas ernannt. Diesen, ebenso wie einen Posten in Mexiko, trat Grade anscheinend nie an. Stattdessen wurde er im März 1891 in gleicher Funktion an die Kaiserliche Botschaft in Madrid entsandt.[xv]

Paul Grades Weltbild

Grades eigene Positionierung im zeitgenössischen Rassismus ist nicht eindeutig zu klären. Trotz seiner Verbindungen zu Ernst Henrici finden sich in den für diesen Artikel gesichteten Texten kein Hinweis auf eine antisemitische Einstellung.[xvi] Auch seine Wortwahl und Positionierung gegenüber Schwarzen und sein Gebrauch des N-Wortes bleiben uneindeutig.[xvii] Einerseits finden sich etliche zeitgenössische Stereotypen in Grades Texten. Andererseits interessierte er sich für die lokalen Kulturen und Sprachen und befürwortete eine Auseinandersetzung mit ihnen.[xviii] Besonders aber in populärwissenschaftlichen Darstellungen, wie dem Artikel „Volkstümliche Gebräuche und Gesetze im Togoland“, der 1889 in der populären Zeitschrift Aus allen Welttheilen erschien, neigte er zur Wiederholung negativer Stereotype, wie das eines stagnierenden, sich nicht von selbst entwickelnden Afrikas.[xix]

Es bleibt unklar, ob Paul Grade selbst Objekte für das Museum für Völkerkunde in Berlin, wie den Stab des Häuptlings von Gridji, erwarb oder am Erwerb beteiligt war. Er stand zumindest schon 1886 während seines Urlaubs in Berlin und Stendal in Kontakt mit dem Museum und verkaufte eine Reihe von Gegenständen, darunter wohl auch Musikinstrumente, an das Museum.[xx] Später vermachte er diesem verschiedene Gegenstände als Schenkung. Seine Witwe Margarete verkaufte dann nach seinem Tod seine Sammlung an das Museum und an private Händler.[xxi]

Rehabilitation in Pankow

Doch wie lässt sich nun der Lebensweg von Dr. jur. Paul Grade, wie er sich gerne nennen ließ, mit der Geschichte Pankows verbinden? Meine These ist, dass beide als Beispiele für den Aufstieg des (Berliner) Bürgertums im mittleren Kaiserreich gesehen werden können. Die Stabilisierung des Reichs ermöglichte neuen Schichten den sozialen wie wirtschaftlichen Aufstieg und die Gründer- und Jahrhundertwendebauten Pankows wurden zur bevorzugten Adresse dieser Aufsteiger. Die Nähe zum expansiven Berlin und der Wandel Pankows vom großbürgerlichen Sommersitz zum gehobenen Wohnort waren auch für die Grades attraktiv: Neben Paul und seiner Familie ließ sich auch seine Mutter Auguste Caroline Mathilde fußläufig zum Bahnhof Pankow (heute Wollankstraße) nieder. Nachweisbar sind die Adressen Breite Straße 24 und in der Florastraße die Hausnummern 22 und 48. Seine zukünftige Frau, Selma Margarete Martha Hübner, lebte zur Zeit der Verlobung ebenfalls schon in Pankow. Seine Angehörigen sind noch bis mindestens 1935 in Pankow nachweisbar. Paul Grade starb am 5. April 1894 nach kurzer, schwerer Krankheit im Augusta-Hospital in der heutigen Scharnhorststraße in Berlin-Mitte.

provided by Museum Pankow

Andreas Weiß

ORT

Florastraße 22

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Zitieren des Artikels

Andreas Weiß: Als Kolonialbeamter in Togo: Dr. Paul Grade (1856–1894). In: Kolonialismus begegnen. Dezentrale Perspektiven auf die Berliner Stadtgeschichte. URL: https://kolonialismus-begegnen.de/geschichten/als-kolonialbeamter-in-togo-dr-paul-grade-1856-1894/ (25.10.2024).

Literatur & Quellen

[i] Dies ist die stark gekürzte Fassung eines längeren Aufsatzes über Paul Grade, der erschienen ist in: Bernt Roder (Hg.), (De)Koloniale Spuren in Pankow, Berlin 2004, S. 26-39. Dieser gedruckte Aufsatz enthält weitere biografische Details, historische Einordnungen und ausführliche Literatur- und Quellenangaben.

[ii] Viele Informationen zu seinem Lebenslauf finden sich in seinen Personalakten des Auswärtigen Amtes im Politischen Archiv des Auswärtigen Amtes: PA AA P 1/4693-4699. Die Angaben zu Adresse und Lebenslauf bis zur Einstellung finden sich in P 1/4693.

[iii] Dies wurde Grade sowohl mündlich wie schriftlich mitgeteilt. Er wurde auch darauf hingewiesen, dass er wahrscheinlich nur im Ausland Verwendung finden würde. Immer wieder erinnert er daher daran, dass er in den öffentlichen Dienst aufgenommen werden will.

[iv] Zur Bedeutung des militärischen Rangs des Reserveoffiziers im statusgläubigen Kaiserreich s. Ute Frevert, Die kasernierte Nation. Militärdienst und Zivilgesellschaft in Deutschland, München 2001.

[v] Es finden sich nur wenige Aussagen zur Rekrutierung der Beamten für den Kolonialdienst in der ersten Phase deutscher Kolonialpolitik. Auch wenn nicht alles auf Grade zutreffen mag, malt die folgende Schilderung ein bezeichnendes Stimmungsbild: „Von Anfang an gab es das Gefühl des Spätkommers, ‚aufholen‘ und es besser machen zu müssen. Aber das Reich hatte die Kolonien mit dem Personal zu verwalten, das ihm zur Verfügung stand – mit weltunerfahrenen juristischen und autoritätsgewohnten Beamten und schneidigen Offizieren. Es gab faktisch kein nennenswertes Kapital zur ‚Erschließung‘ der Kolonien, weder aus dem Staatshaushalt noch aus der Wirtschaft – all die ökonomischen Blütenträume der Kolonialisten brachen schnell zusammen.“ Nipperdey, Deutsche Geschichte, Bd. 2, S. 287.

[vi] Denn zeitgleich mit ihm und Falkenthal trifft auch der Unteroffizier Bilke ein, der diese Truppe aufbaute. Interessanterweise ist Grade älter als sein direkter Vorgesetzter. Siehe N[icoué] Gayibor, Y[ves] Marguerat, [Gabriel] K[wami] Nyassogbo (Hg.), Le Centenaire de Lome, Capitale du Togo (1897–1997), Lomé 1998, S. 52.

[vii] P I/4698, 1. Ernst Henrici gründete unter anderem die kurzlebige antisemitische Soziale Reichspartei, die als erste deutsche Partei den Erwerb von Kolonialbesitz propagierte. Vgl. Christian S. Davis, Colonialism and the Anti-Semitic Movement in Imperial Germany, in: Eley, Naranch (Hg.), German Colonialism in a Global Age, Durham 2014, S. 228–245, hier S. 228.

[viii] Über die gemeinsame Expedition verfasste Ernst Henrici, der den Skandal anscheinend ohne Reputationsverlust überstanden hatte, einen Reisebericht: Ernst Henrici, Dr. phil., Das Deutsche Togogebiet und meine Afrikareise 1887, Leipzig 1888.

[ix] Das Disziplinarverfahren füllt zwei umfangreiche Aktenbestände: PA AA P1/4698 und PA AA P1/4699.

[x] Im weiteren Verfahren sollte sich dann herausstellen, dass Strensch selbst keinen guten Leumund besaß und wohl in spekulative Geschäfte verwickelt war. Um einer Untersuchung wegen verschiedener Vergehen zuvorzukommen, scheint er schließlich seinen Abschied aus dem Militär eingereicht zu haben. Siehe PA AA P 1/4698, I 17150 und ad I 17117.17150.17159.

[xi] Jesko von Puttkamer war verwandt mit Bismarcks Frau Johanna. Diese Verbindung wird ihm sicher den Zugang zu höheren Ebenen im Auswärtigen Amt erleichtert haben. Später war er selbst in eine Reihe von Kolonialskandalen verwickelt, die am Ende sogar zu seiner Abberufung führten. Siehe hierzu und zu dem Fakt, dass solche Skandale relativ oft erstaunlich milde Strafen nach sich zogen: Gründer, „… da und dort ein junges Deutschland gründen“, S. 98f, 130–134, 137ff. Zur relativen Ruhe in der „Musterkolonie“ Togo s. ebd., S. 100f.

[xii] So F[riedrich Christian] Oloff, Koloniale Verwaltungsorganisation, in: Paul Helbeck-Elberfeld (Hg.), Deutschlands Kolonien und seine Kolonialpolitik, Köln 1906, S. 56–72, hier S. 56 Fußnote. Allerdings stellt Oloff den Kolonialismus insgesamt nicht in Frage.

[xiii] PA AA P 1 /4699, o. N.

[xiv] Die weiteren Briefwechsel hierzu hatten keine sichtbaren Auswirkungen auf seine Karriere mehr. Das Verfahren zog sich laut den Akten über drei Jahre hin, endete aber für ihn erst 1893 mit seinem nachträglichen ehrenvollen Abschied aus dem Reservedienst.

[xv] Ein kurzer tabellarischer Lebenslauf findet sich am Anfang seiner Personalakte, PA AA P1/4693.

[xvi] Allerdings erkundigte sich im Januar 1888 der Theologiestudent Andreae, Mitglied im antisemitischen Verein Deutscher Studenten Berlins, beim Auswärtigen Amt nach seiner Adresse; diese konnte ihm nicht mitgeteilt werden, da Grade sich erst auf der Rückreise nach Deutschland befand. Siehe PA AA P 1/4693, I 1485.

[xvii] Im Folgenden wird N**** im Fließtext nicht verwendet, da der Gebrauch dieses Wortes verletzend und rassistisch ist. In Quellenzitaten und bei der Nennung von Buchtiteln wird das Wort aber weiterhin ausgeschrieben, um die Unterschiede im historischen Gebrauch widerzuspiegeln.

[xviii] P[aul] Grade, Das Negerenglisch an der Westküste von Afrika, Sonderabdruck aus der „Anglia“, Zeitschrift für englische Philologie, Band XIV, 2, Halle a. S. 1892. Das Exemplar der Staatsbibliothek zu Berlin befand sich übrigens vorher im Besitz der Bibliothek des Seminars für Orientalische Sprachen Berlin. Grade widmete das Buch „Seiner Excellenz dem Kaiserlichen Botschafter Herrn Freiherrn von Stumm ehrfurchtsvoll zugeeignet vom Verfasser.“ Stumm war von 1888 bis 1892 Botschafter in Madrid.

[xix] Dr. P[aul] Grade, Volkstümliche Gebräuche und Gesetze im Togoland, in: Aus allen Welttheilen 20 (1889). Der erste Teil erschien in Heft 1 des 20. Jahrgangs (S. 1–6), der Schluss dann in Heft 2 (S. 29–35).

[xx] Archiv des Ethnologischen Museums Berlin: I MV/0706 Grade 1886.

[xxi] Zu Letzterem s. auch den Briefwechsel im Archiv des Ethnologischen Museums Berlin: I/MV 0713, 112–137.

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