Carl Marquardts Afrika-„Völkerschau“ am Weißen See

Im Spätsommer 1906 fand am Ufer des Weißen Sees eine sogenannte „Völkerschau“ statt.[i] Bei diesen Veranstaltungen wurden unter freiem Himmel Objekte, Tiere und insbesondere Menschen aus anderen Ländern und Erdteilen vor einem zahlenden Publikum ausgestellt. „Völkerschauen“ um 1900 taten zwar so, als würden sie Einblicke in andere Kulturen vermitteln. Manche inszenierten sich als wissenschaftlich fundierte Unternehmungen. Tatsächlich waren sie jedoch hochgradig hierarchische und künstliche Darbietungen, deren vollmundige Authentizitätsversprechen in erster Linie den Geschäftsinteressen der Veranstalter dienten. Sie reproduzierten rassistische Stereotype und sie verfestigten koloniale Denkmuster.

Organisiert wurden die Schau am Weißen See, die den Namen Afrika trug, vom Impresario Carl Marquardt (1861–1916). Bei der Organisation seiner Schauen arbeitete Marquardt mit seinen zwei Brüdern zusammen, Friedrich Marquardt (1864–1918), genannt Fritz, und Gustav Marquardt (1868–1933). Die Brüder Marquardt gehörten zu den bekanntesten Unternehmern der „Völkerschau“-Branche um 1900. Diese Bekanntheit verdankten sie drei besonders aufwendig inszenierte „Völkerschauen“ mit Menschen aus Samoa.[ii]

Die Samoa-Schauen und das ethnologische „Sammeln“

Fritz Marqurdt wanderte als junger Mann nach Samoa aus und gelangte zu Ansehen innerhalb der weißen Kolonialcommunity Samoas.[iii] Er lebte mit Unterbrechungen bis circa 1912 in Samoa und heiratete dort Denise Devère (1876–?), die eine samoanische Mutter und einen französischen Vater hatte. Denise und Fritz Marquardt sorgten für die Rekrutierung der Darsteller*innen der „Völkerschauen“, sie begleiteten die Menschen auf ihren Reisen durch Europa und fungierten als Dolmetscher.[iv]

Die drei Samoa-Schauen verliefen sehr unterschiedlich. Die erste tourte von 1895-1897 durch Europa.[v] Bei der Schau traten sieben Männer und 34 Frauen auf. Überliefert sind viele Fotos und Ansichtskarten, auf denen insbesondere die mitreisenden Frauen abgebildet waren. Die Brüder Marquardt nutzten das weit verbreitete Klischee der besonders schönen „Südsee“-Frauen, um für ihre Schau zu werben. Allerdings wurde die Samoa-Schau von Skandalen begleitet, über die die Presse ausführlich berichtete. Der Leiter des Berliner Passage-Panoptikums, in dem die Schau gezeigt wurde, erhob schwere Anschuldigungen gegen die Marquardts. Zwar ließen sich die Vorwürfe in einer polizeilichen Überprüfung nicht erhärten. Aber die Anschuldigungen zeigen – selbst wenn sie auf die Samoa-Schau nicht zutrafen (was wir nicht genau wissen) –, dass Prügelstrafen, Nahrungsentzug und schlechte Unterbringung im „Völkerschau“-Gewerbe denkbar und vermutlich nicht unüblich waren.[vi]

Nach dem Ende der Schau reiste Carl Marquardt mit den Darsteller*innen, seinem Bruder und seiner Schwägerin nach Samoa und betrieb dort ethnologische Studien. Denn er verstand sich selbst nicht nur als Geschäftsmann, sondern als „Ethnologe“, seine „Völkerschauen“ bezeichnete er als „völkerschaftliche Ausstellungen“.[vii] Nach seiner Rückkehr nach Deutschland publizierte er 1899 eine viel zitierte Studie zur Praxis des Tätowierens in Samoa. Bereits zuvor hatte er begonnen, mithilfe seines Bruders und seiner Schwägerin eine umfangreiche Sammlung von Ethnografika zusammenzustellen und zum Verkauf anzubieten. Außerdem veröffentlichte Carl Marquardt zwei Publikationen, in denen er den Kolonisierungsprozess Samoas – selbstverständlich aus deutscher Perspektive – darstellte.[viii]

In den Jahren 1900/1901 tourte eine zweite Samoa-Schau der Marquardts durch Deutschland (u. a. mit einem Abstecher zu Pariser Weltausstellung).[ix] Ein Teil von Samoa war inzwischen offiziell deutsche Kolonie geworden. Die Brüder Marquardt behaupteten nun, sie zeigten den Deutschen ihre „neuen Landsleute“. Damit erreichte die Schau eine neue Qualität der Verbindung zwischen Kolonialismus und „Völkerschau“. Die Marquardts warben mit der kolonialen Inbesitznahme Samoas und sie ließen bei jedem Auftritt die deutsche Flagge über dem „Südsee“-Dorf hissen.

Um bei der zweiten Samoa-Schau Skandale zu vermeiden, wurde sie anders organisiert als die erste. Die Marquardts überließen die Auswahl der Teilnehmer*innen und deren Betreuung während der Reise dem angesehenen samoanischen Würdenträger Te’o Tuvale (1855–1919). Tuvale nutzte seinerseits die Reise nach Europa, um sich Wissen über Deutschland anzueignen. Nach seiner Rückkehr wurde er zu einem wichtigen „cultural broker“, einem Vermittler zwischen den Interessen der Einheimischen und der Kolonialmacht.[x]

Afrika am Weißen See und eine dritte Samoa-Schau

Im Jahr 1900 verbot das Deutsche Reich, Menschen aus deutschen Kolonien zu Ausstellungszwecken nach Deutschland zu holen.[xi] Von 1904 bis 1914 zeigten Carl und sein Bruder Gustav Marquardt daher Menschen aus Nordwestafrika, Ägypten und dem heutigen Sudan.[xii]

Bei der Afrika-Schau in Weißensee 1906 traten 53 Menschen auf. Aufgabe der Darsteller*innen war es, laut zeitgenössischem Zeitungsbericht, „vor unseren Augen ein eigenartiges Sitten- und Kulturbild der von ihnen bewohnten Landstriche“ vorzuführen.[xiii] Die Menschen wohnten und lebten für circa vier Wochen in provisorischen Unterkünften rund um den Weißen See. Wer die 53 Menschen waren, die in der Afrika-Schau auftraten, ist in keiner Quelle überliefert. Wir kennen nicht ihre Namen, ihre Herkunft, ihre Beweggründe, an einer solchen Schau teilzunehmen. Wir wissen nicht, wie ihre Arbeitsverträge gestaltet waren, haben kaum Hinweise darauf, wie die Arbeitsbedingungen vor Ort aussahen, wie viel Geld sie verdienten und wie sie ihre Freizeit verbrachten. Nur für wenige „Völkerschauen“ verfügen wir über ein Quellenmaterial, das es ermöglicht, diese Fragen zu beantworten.

Gezeigt wurde, was das Publikum erwartete: Schlangenbeschwörer, „Haremsdamen“, Reiterspiele, Kunstschützenauftritte, traditionelles Handwerk und vermeintliche Alltagsszenen.[xiv] Die ausgestellten Menschen waren die Schauen harte Arbeit unter ungewohnten und artifiziellen Bedingungen. Bereits die Anreise war weit und anstrengend, in der Regel wurde mehrmals der Auftrittsort gewechselt. Hinzu kamen das fremde Klima, die ungewohnte Nahrung, die mitunter erbärmliche Unterbringung und das Betrachtetwerden durch das Publikum.

Trotz des Verbots, Menschen aus den deutschen Kolonien für „Völkerschauen“ nach Deutschland zu bringen, gelang es Fritz und Carl Marquardt, eine Sondergenehmigung für eine weitere Samoa-Schau vom Reichskolonialamt zu erwirken.[xv] Als sie diese erhielten, tourte die dritte Samoa-Schau 1910/1911 durch Deutschland. Das Programm ähnelte den vorangegangenen Touren: u. a. wurden Tänze, Gesänge und Ringkämpfe aufgeführt, ebenso das Erklettern einer Kokospalme und Ruderwettbewerbe. Auch von dieser Schau existieren zahlreiche Fotos und Ansichtskarten. Viele ethnologische Sammlungen in Deutschland besitzen Kunst- und Alltagsgegenstände, die im Rahmen der Schau nach Deutschland gelangten.[xvi]

Die Schau wurde wieder von einem wichtigen Würdenträger begleitet: Tupua Tamasese Lealofi (1863–1915) reiste mit Frau und Kindern mit nach Deutschland. Wie bereits zehn Jahre zuvor Te’o Tuvale verstand auch Tamasese die Tour nicht als Unterhaltungsshow. Er wollte sie vielmehr für diplomatische Kontaktaufnahmen nutzen. An den Vorführungen beteiligte er sich nicht, er übernahm ausschließlich eine repräsentative Rolle und war keineswegs bereit, als Entertainer zu agieren. In München auf dem Oktoberfest traf Tamasese den Prinzregenten Luitpold von Bayern, in Berlin war er Gast auf mehreren Empfängen und schließlich traf er auf seinen ausdrücklichen Wunsch hin Kaiser Wilhelm II. bei der Frühjahrsparade auf dem Tempelhofer Feld.

Die Samoa-Schauen zeigen, dass in einigen „Völkerschauen“ die ausgestellten Menschen selbstbewusst agierten, ihre Handlungsspielräume nutzten, eigene Lesarten und Interpretationen der Reise entwickelten, sich gegen Zumutungen zur Wehr setzten und ihre eigenen Ziele und Interessen verfolgten. Ob dies bei den Afrika-Schauen der Marquardts ebenfalls möglich war, muss mit Blick auf die derzeit vorliegenden Quellen eher bezweifelt werden. Darüber hinaus bleibt zu befürchten, dass die allermeisten Protagonist*innen der Völkerschauen um 1900 nicht aus der Anonymität geholt werden können.

provided by Museum Pankow

Johanna Niedbalski

ORT

Schloss Weißensee

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Zitieren des Artikels

Johanna Niedbalski: Carl Marquardts Afrika-„Völkerschau“ am Weißen See. In: Kolonialismus begegnen. Dezentrale Perspektiven auf die Berliner Stadtgeschichte. URL: https://kolonialismus-begegnen.de/geschichten/carl-marquardts-afrika-voelkerschau-am-weissen-see/ (25.10.2024).

Literatur & Quellen

 

[i] Dies ist die stark gekürzte Fassung eines längeren Aufsatzes, der erschienen ist in: Bernt Roder (Hg.), (De)Koloniale Spuren in Pankow, Berlin 2004, S. 52-64. Dieser gedruckte Aufsatz enthält weitere biografische Details, historische Einordnungen und ausführliche Literatur- und Quellenangaben.

[ii] Das Besondere an den Samoa-Schauen ist aus heutiger Perspektive die ungewöhnlich gute Quellenlage: Selten sind so viele Informationen über die Darsteller*innen, die Reiserouten, die Beweggründe aller Akteur*innen und über Alltagsabläufe sowie Skandale überliefert.

[iii] Er war u. a. Plantagenaufseher und -besitzer, Zollbeamter, Militärausbilder für den hochrangigen samoanischen Würdenträger Tupua Tamasese Titimaea (1830–1891) und Polizeichef in der Hauptstadt Apia. Letzteres scheint der Höhepunkt seiner Karriere gewesen zu sein, denn bis zu seinem Tod nannte er sich auch in Deutschland „Polizeichef außer Dienst“.

[iv] Zu den biografischen Details vgl. Hilke Thode-Arora, Die Brüder Fritz und Carl Marquardt. Siedler in Samoa, Völkerschau-Impresarios und Ethnographica-Händler, in: Dies. (Hg.), From Samoa with Love? Samoa-Völkerschauen im Deutschen Kaiserreich – eine Spurensuche. Staatliches Museum für Völkerkunde München 2014, S. 47ff.

[v] Für eine ausführliche Darstellung der Schau vgl. Hilke Thode-Arora, „Samoanische Mädchenschönheiten“. Die Samoa-Schau von 1895–1897, in: Dies. (Hg.), From Samoa with Love?, S. 93ff. Hilke Thode-Arora hatte im Rahmen ihres Forschungsprojekts die Namen und die Herkunft aller Teilnehmer*innen der Schauen rekonstruiert, viele ihrer Nachfahren in Samoa besucht und mit ihnen gesprochen.

[vi] Vgl. u. a. „Ueber grausame Misshandlungen der Samoanerinnen“, in: Berliner Tageblatt, 14.05.1897 und die Gegendarstellung Carl Marquradts: Carl Marquardt, Der Roman der Samoanerinnen in Berlin und die Geschäftspraxis des Berliner Passage-Panoptikums. Eine Rechtfertigungsschrift, Selbstverlag 1897.

[vii] Briefpapier Carl Marquardts aus dem Jahr 1911, in: Deutsches Museum, Archiv, VA 1984/3.

[viii] Vgl. Carl Marquardt, Die Tätowirung beider Geschlechter in Samoa, Berlin 1899; Carl Marquardt, Verzeichniss einer ethnologischen Sammlung aus Samoa. Zusammengestellt in etwa 20 Jahren, Berlin 1902, Vorbericht; Carl Marquardt, Der Kampf um und auf Samoa. Ausführlich dargestellt unter Benutzung amtlichen Materials, Berlin 1899; Carl Marquardt, Zur Lösung der Samoafrage. Ein Beitrag zur Kolonialgeschichte, Berlin 1899.

[ix] Hilke Thode-Arora, „Unsere neuen Landsleute“. Die Samoa-Schau von 1900/01, in: Dies. (Hg.), From Samoa, S. 115ff.

[x] Vgl. Te’o Tuvale, An Account of Samoan History up to 1918, Apia 1918.

[xi] Ausführlich dazu vgl. Anne Dreesbach, Gezähmte Wilde. Die Zurschaustellung „exotischer“ Menschen in Deutschland 1870– 1940, Frankfurt am Main, New York 2005, S. 269ff.

[xii] Gustav Marquardt trat selbst im Programm einiger „Völkerschauen“ als Kunstschütze auf.

[xiii] „Ein Stück von Wild-Afrika“, in: Berliner Tageblatt, 15.08.1906.

[xiv] Vgl. u. a. diverse Anzeigen der Afrika-Ausstellung, in: Berliner Tageblatt, 16.08.1906; 19.08.1906 oder in: Vorwärts, 25.08.1906. Der Topos der „Sklaven-Befreiung“ war im kolonialen Diskurs von großer Wichtigkeit. Mit ihm wurden koloniale Landnahme, die Durchsetzung kolonialer Herrschaftsstrukturen sowie Kolonialkriege gerechtfertigt. Auch in der Populärkultur um 1900 war er allgegenwärtig.

[xv] Zur dritten Samoa-Schau der Marquardts vgl. Thode-Arora, Ein diplomatischer Besuch? Tamasese in Deutschland und die Samoa-Schau von 1910/1911, in: Dies. (Hg.), From Samoa, S. 137ff.

[xvi] Zahlreiche Abbildungen finden sich in: Thode-Arora, From Samoa, passim.

 

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