Koloniale Spuren der Industriegeschichte Reinickendorfs

Berlin war sowohl Reichshauptstadt als auch Kolonialhauptstadt. Die Spuren der kolonialen Vergangenheit sind nicht immer sichtbar und dennoch allgegenwärtig. Als wichtiger Industriestandort waren in Reinickendorf ansässige Unternehmen Teil des globalen Handels. Die Produkte, die hier hergestellt wurden, fanden ihren Weg in die kolonisierte Welt. Zur kritischen Auseinandersetzung mit der Geschichte des Kolonialismus und seinen Folgen auf regionaler Ebene hat Reinickendorf historische Forschungen zu seiner bisher kaum bekannten kolonialen Vergangenheit durchgeführt. Eine Ausstellung präsentierte erste Ergebnisse dieser Spurensuche vom 01.12.2023 bis 18.02.2024 in der GalerieETAGE des Museums Reinickendorf. Das Ziel ist es, die Institutionen, die Gesellschaft und die Metropolregion auf breiter Ebene auf postkoloniale Effekte zu untersuchen. Das Museum Reinickendorf beteiligt sich mit der Ausstellung am Berliner Forschungs- und Aufarbeitungsprozess. Das Museum präsentiert nun erneut geprüfte und aktualisierte Ausstellungsinhalte auf der Website „Kolonialismus begegnen – Dezentrale Perspektiven auf die Berliner Stadtgesellschaft“. Das Online-Portal bietet einen Einblick in die Forschungen und Projekte des Kolonialismus der Berliner Bezirke. Die Museen des Arbeitskreises der Berliner Regional- und Bezirksmuseen bieten den Nutzer*innen die Möglichkeit, sich mit der Berliner Kolonialgeschichte und postkolonialen Spuren auseinanderzusetzen.
Um die Lesbarkeit des gesamten inhaltlichen Konzepts zu verbessern, bietet das Museum Reinickendorf den Nutzer*innen die Möglichkeit, die Texte anhand der folgenden Reihenfolge zu lesen. Der einleitende Abschnitt befasst sich mit den deutschen Kolonien von 1862 bis 1918 und ihrer Verflechtung mit Industrieunternehmen in Reinickendorf. In weiteren Beiträgen werden verschiedene Firmen und Personen aus Reinickendorf vorgestellt, die ihre Spuren der kolonialen Vergangenheit im Bezirk bis in die Gegenwart hinterlassen haben:

Borsig: Lokomotiven für deutsche Kolonien – Beispiel Kamerun

AMAG: Postkarten für deutsche Kolonien – Beispiel Kiautschou

DWM: Waffen und Trinkflaschen für deutsche Kolonien – Beispiel Deutsch-Ostafrika

C. L. P. Fleck Söhne: Holzbearbeitungsmaschinen für deutsche Kolonien – Beispiel Deutsch-Neuguinea

Hein, Lehmann & Co. AG: Eisenbahnanlagen für Togo

Die Industrie in Reinickendorf und ihre Geschäfte in den deutschen Kolonien

Reinickendorf wurde 1920 im Zuge der Gründung von „Groß-Berlin“ aus den sechs ehemals selbstständigen Landgemeinden Reinickendorf, Heiligensee, Hermsdorf, Lübars, Tegel und Wittenau als zwanzigster Bezirk gebildet. Bis ins 19. Jahrhundert hinein hatten sich in diesen sechs Orten mittelalterliche Siedlungsstrukturen erhalten. Die Industrialisierung veränderte diese Gemeinden stark. Zunächst wurden zahlreiche Mühlen erbaut. Um 1800 wurden in Hermsdorf Tonvorkommen entdeckt, Ziegeleibetriebe entstanden in Hermsdorf und Lübars. Da in Berlin die Anzahl der Einwohner rasant wuchs und viel gebaut wurde, florierte das Geschäft mit Ton- und Zementwaren zunächst. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts waren die Ziegeleien jedoch nicht mehr konkurrenzfähig und mussten schließen.
Bereits 1838 hatte Franz Anton Egells, Eigentümer einer Eisengießerei in der Chausseestraße in Berlin, ein Hammerwerk am Tegeler See errichtet. Der Spandauer Schifffahrtskanal, der von 1848 bis 1859 gebaut wurde, verbesserte die Standortbedingungen in Tegel erheblich. Wesentlich für die weitere industrielle Entwicklung der nördlich von Berlin gelegenen Gemeinden war zudem der Ausbau des Schienennetzes mit der Nordbahn 1877 und der Kremmener Bahn 1892.
1898 schließlich zog auch Borsig mit der Lokomotivenmontage von Moabit nach Tegel um, 1899 folgte das gesamte Werk. Mit der Entscheidung für Tegel als Standort begann Borsig, sich für örtliche Belange einzusetzen. So konnte beispielsweise die Pferdebahn nach Tegel 1901 elektrifiziert werden. Außerdem wurde die Industriebahn Tegel – Friedrichsfelde gebaut und 1908 der Tegeler Hafen fertiggestellt. Ab 1910 war der Spandauer Schifffahrtskanal ein Abschnitt des Großschifffahrtswegs Berlin-Stettin. Bis zum Beginn des Ersten Weltkriegs 1914 war die Industrieansiedlung im heutigen Bezirk Reinickendorf weitestgehend abgeschlossen.

Deutsche Kolonien 1682 bis 1918

Bereits der Brandenburgische Kurfürst Friedrich Wilhelm hatte 1682 in Westafrika, im heutigen Ghana, die Kolonie Groß-Friedrichsburg gegründet, die aber 1717 an die Niederländische Westindien-Kompanie verkauft wurde. Die Festung entwickelte sich zu einem Umschlagpunkt des europäischen Sklavenhandels. (1) Handelshäuser in Bremen und Hamburg und auch Banken beteiligten sich an der Gründung von Kolonialgesellschaften in Afrika und Asien. Auch Unternehmen in Reinickendorf beteiligten sich an den Geschäften mit den seit 1884 vom Deutschen Reich vor allem in Afrika und Neuguinea errichteten Kolonien. 1884/1885 fand auf Einladung des deutschen Reichskanzlers Otto von Bismarck in Berlin die internationale „Kongo-Konferenz“ statt, deren Schlussdokument die Grundlage für die Aufteilung Afrikas in Kolonien der europäischen Großmächte bildete. Es nahmen Vertreter des Osmanischen Reiches, Österreich-Ungarn, Belgien, Dänemark, Frankreich, Großbritannien, Italien, Niederlange, Portugal, Russland, Spanien, Schweden-Norwegen und den USA teil. (2) Auf dieser Konferenz vertrat Bismarck die Interessen der nach ungehinderten Kolonialhandel strebenden deutschen Wirtschaft und konnte diese auf dem afrikanischen Kontinent durchsetzen. (3) 
Bis auf Marokko, Abessinien, Liberia, Oranje-Freistaat und Transvaal, die als unabhängige Staaten erhalten blieben, schritt die koloniale Aufteilung des Kontinents entscheidend voran in den kommenden Jahrzehnten. Weitere Gebietsgewinne wurden durch militärische Gewalt und politischen Druck in Form von Verträgen erreicht. 1914 wurde die Aufteilung Afrikas durch die europäischen Großmächte besiegelt. Ägypten wurde zum britischen Protektorat erklärt.
Auch wenn andere europäische Großmächte wie Großbritannien, Frankreich, die Niederlande und Spanien auf eine wesentlich längere koloniale Vergangenheit zurückblicken konnten, kontrollierte das Deutsche Reich ab 1884 Gebiete, die sechsmal so groß wie das Kaiserreich waren und mit ca. 12 Millionen Einwohnern ein knappes Fünftel der Einwohner Deutschlands hatten.
Das Deutsche Reich beutete die Menschen, Bodenschätze, Flora und Fauna aus. Dafür wurde eine Infrastruktur mit Eisenbahnlinien, Fabriken, Verwaltungs- und Wohngebäuden aufgebaut. Daran waren auch Unternehmen aus Reinickendorf wie Borsig, C.L.P. Fleck Söhne, Albrecht & Meister AG und die Deutsche Waffen- und Munitionsfabriken AG beteiligt. Mit der Kolonisierung der Gebiete waren ausdrücklich keine staatsbürgerlichen Rechte für die einheimische Bevölkerung verbunden. (4) Damit einher ging eine rechtliche Ungleichbehandlung, die sich zunächst in der grundsätzlichen Unterscheidung zwischen „Staatsbürgern“ und „Eingeborenen“ manifestierte und als Grundlage kolonialer Herrschaft anzusehen ist. (5) Zur Durchsetzung seiner illegitimen Herrschaft machte sich das Deutsche Reich der brutalen Niederschlagung von Aufständen bis hin zum Völkermord schuldig. Im Ersten Weltkrieg verlor das Deutsche Reich die Kolonien vor allem an Frankreich und Großbritannien. Die Folgen der Kolonialherrschaft wirken jedoch trotz der vergleichsweise kurzen Zeit direkter Herrschaft weiter nach.

provided by Museum Reinickendorf

Zeichnung der Teilnehmer der Kongokonferenz 1884 in Berlin.
 Quelle: WikiCommons (gemeinfrei)

Koloniale Spuren: Ruinen des Fort Groß Friedrichsburg nahe der heutigen Stadt Pokesu in Ghana.
 Quelle: WikiCommons (gemeinfrei)

Geplante und realisierte Kolonialgebiete des Deutschen Kaiserreichs 1862-1918.
 Quelle: Museum Reinickendorf

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Zitieren des Artikels

Facts & Files : Koloniale Spuren der Industriegeschichte Reinickendorfs. In: Kolonialismus begegnen. Dezentrale Perspektiven auf die Berliner Stadtgeschichte. URL: https://kolonialismus-begegnen.de/geschichten/koloniale-spuren-der-industriegeschichte-reinickendorfs/ (05.11.2024).

Literatur & Quellen

 

(1) Ullrich van der Heyden (2001): Rote Adler an Afrikas Küste. Die brandenburgisch-preußische Kolonie Großfriedrichsburg in Westafrika, S. 44 ff.

(2) Sebastian Conrad: Deutsche Kolonialgeschichte. C.H.Beck Wissen, Band 2448, 4., durchgesehene Auflage, Originalausgabe, München 2019, S. 18.

(3) Andreas Eckert: Die Berliner Afrika-Konferenz (1884/85). In: Jürgen Zimmerer (Hrsg.): Kein Platz an der Sonne. Erinnerungsorte der deutschen Kolonialgeschichte. Frankfurt am Main 2013, S. 137–149.

(4) Winfried Speitkamp: Deutsche Kolonialgeschichte. Reclam Sachbuch, Aktualisierte und erweiterte Ausgabe, Ditzingen 2021, S. 43.

(5) Joël Glasman: Was war Kolonialismus? Zur Vergangenheit der globalen Gegenwart, in: Einsichten+Perspektiven. Bayerische Zeitschrift für Politik und Geschichte, 2 (2023), S. 4–18, S.4f. Siehe auch: Sebastian Conrad: Deutsche Kolonialgeschichte. C.H.Beck Wissen, Band 2448, 4., durchgesehene Auflage, Originalausgabe, München 2019, S. 74.

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