Künstlerische Auseinandersetzungen mit dem kolonialen Blick
Begleitend zur Ausstellung „Koloniale Spuren der Industriegeschichte Reinickendorfs“ in der GalerieETAGE wurden auch ausgewählte Objekte in den Räumen der ständigen Ausstellung im Museum Reinickendorf auf ihre kolonialen Spuren und Kontexte untersucht.
Unter Mitwirkung einer Fokusgruppe von Schüler*innen des Thomas-Mann-Gymnasiums (Johanna Grace Ampofo, Amanda Calista Williams, Ibrahim Sow, John Kossi Gbeassor) wurden digitale Interventionen für Besucher*innen entwickelt (Link), die multiperspektivische Blicke auf die Ausstellungsgegenstände eröffnen.
Die Beiträge wurden eingehend überprüft und für die digitale Präsentation überarbeitet. Wir empfehlen zum Einstieg den einleitenden Text zur kolonialen Vergangenheit Reinickendorfs (Link).
Hannah Höch – Künstlerische Auseinandersetzungen mit dem kolonialen Blick
Hannah Höch
Die international bekannte Künstlerin Hannah Höch kam als junge Frau nach Berlin an die Kunstgewerbeschule. In Berlin lernte sie ihren damaligen Lebensgefährten Raoul Hausmann kennen. Zusammen mit ihm erfand sie das Prinzip der Fotomontage. Durch Hausmann wurde Hannah Höch in die Dada-Künstlerkreise eingeführt. Dada war eine Künstler-Bewegung, die sich gegen konventionelle politische und gesellschaftliche Normen positionierte und die Fotomontage und Collagetechnik als eines ihrer Stilmittel nutzte. Von 1939 bis zu ihrem Tod 1978 lebte Hannah Höch in ihrem Haus in Heiligensee.
Lebensbild
Mit ihrem Werk „Lebensbild“ collagierte Hannah Höch 1972 – 1973 einen Rückblick auf ihr eigenes Leben. Das Ehepaar Orgel-Köhne begleitete die Künstlerin dabei fotografisch. Die große Fotografie der Collage „Lebensbild“ wird im Hannah Höch Raum im Museum Reinickendorf präsentiert. Neben persönlichen Motiven finden sich im „Lebensbild“ auch Ausschnitte ihres künstlerischen Schaffens.
In der oberen linken Ecke zitierte sie fragmentarisch drei eigene Werke, die im kolonialen Kontext stehen: davon zwei Collagen aus ihrer Serie „Aus einem ethnographischen Museum“ (1922 – 1931) und die Arbeit „Angst“ (1970). Höch positionierte sich bereits früh gegen den kolonialen Blick. Sie hinterfragte in diesen Arbeiten kritisch die stereotypischen Sehgewohnheiten auf das „Fremde“ und „Primitive“.
Entführung
Hauptmotiv der Collage „Entführung“ ist eine Holzskulptur aus dem Kongo, die Hannah Höch aus der „Berliner Illustrierten Zeitung“ ausgeschnitten hatte. Auf einem Pferd sitzen vier stilisierte Menschen, vorne und hinten männliche und in der Mitte weibliche. Auf die linke weibliche Figur ist ein weißer Frauenkopf montiert, der sich nach hinten in Richtung der männlichen Figur mit dem Speer richtet.
Im Kontrast zu den ruhigen verschlossenen Köpfen der anderen Figuren wirkt der aufgerissene Mund des modernen weißen Frauenkopfes wie ein empörter Aufschrei, mit dem die weiße Frau gegen ihre Verschleppung aufbegehrt. Hier wird die wehrlose weiße Frau als bedroht durch den schwarzen Mann gezeigt.
Mit dieser Collage spielt Höch kritisch auf die öffentlichkeitswirksame rassistische Kampagne „Schwarze Schmach“ an. Während der Alliierten Rheinlandbesetzung mit dem Einsatz französischer Kolonialtruppen (1920-1923), wurden schwarzen Soldaten massenhafte Gewalttaten an deutschen Frauen und Kindern unterstellt.
Die Süße
In dieser Fotomontage thematisiert Hannah Höch die stereotype Sichtweise auf das Fremde. Zentral im Bild dominiert ein überproportionierter Kopf zum wesentlich kleineren Rest des Körpers. Es ist eine Maske aus Französisch Kongo, die 1924 in „Der Querschnitt“ abgebildet war. Die Künstlerin gestaltet die Mimik des Gesichts, indem sie das linke Auge schließt und rechts ein riesiges, schräg nach oben schauendes weibliches Auge einsetzt. Der Mund ist durch den geschminkten Mund einer weißen Frau ersetzt. Der Körper endet unten mit den posierenden Beinen einer weißen Frau.
Mit dem Titel „Die Süße“ unterläuft Höch die Sehgewohnheiten des Betrachters. Die anmutige, elegante Haltung der eigentlich so ungraziös deformierten Figur spiegelt die Darstellung des weiblichen Körpers in den zeitgenössischen Medien. Diese knüpften an die Begegnungen mit dem Fremden auf den „Völkerschauen“ der Kolonialzeit an.
Angst
1970 bringt Hannah Höch ihren ironischen Kommentar zur exotischen Sicht auf das Fremde noch einmal zum Ausdruck. Bei der Wahl der Ausschnitte für diese Collage greift die Künstlerin nicht auf Zitate aus der „primitiven“ Kunst zurück, sondern bedient sich der Fotografie eines Wissenschaftsmodells, das sie mit einem überdimensionierten rot geschminkten Frauenmund und zwei glotzenden Augen kombiniert. Erkennbar ist eine grotesk stilisierte, schwarze Frau vor einem Bildhintergrund voller Gestrüpp.
Die aufgerissenen Augen der Figur vermitteln eine naive Scheu, die sich wiederum in der befremdlichen Angst des Betrachters spiegelt. Der Titel „Angst“ spielt mit dem ambivalenten Dialog zwischen der abgebildeten Figur und dem Betrachter.
Claudia Wasow-Kania
Imke Küster
ORT
HEUTE
Zitieren des Artikels
Claudia Wasow-Kania Imke Küster Künstlerische Auseinandersetzungen mit dem kolonialen Blick. In: Kolonialismus begegnen. Dezentrale Perspektiven auf die Berliner Stadtgeschichte. URL: https://kolonialismus-begegnen.de/geschichten/kuenstlerische-auseinandersetzungen-mit-dem-kolonialen-blick/ (23.11.2024).
Literatur & Quellen
Denise Toussaint: Dem kolonialen Blick begegnen. Identität, Alterität und Postkolonialität in den Fotomontagen von Hannah Höch. Bielefeld 2015