Rudi Dutschke im öffentlichen Raum
Als im April 2008 ein Teil der Kreuzberger Kochstraße in Rudi-Dutschke-Straße umbenannt wurde, fand eine lange Auseinandersetzung ihr Ende. Insbesondere der anliegende Axel-Springer-Verlag hatte mit Klagen versucht, die Umbenennung zu verhindern. Weder passte dem Verlag eine Adresse, die nach dem ungeliebten Studierendenführer benannt war, noch hatte die Leitung die schweren Proteste vergessen, die tagelang vor dem Gebäude gegen die Bildzeitung und ihre vermeintliche Mitverantwortung am Attentat auf Rudi Dutschke stattgefunden hatten. Rudi Dutschke war zweifellos das Gesicht und Symbol der Studierendenrevolte von „68“ und in einem Bürgerentscheid wurde die Neubenennung beschlossen.
Wenn es um Rudi Dutschke geht, dann steht gewöhnlich seine Kritik des Kapitalismus im Vordergrund, doch gibt es gute Gründe, ihn auch in einem Buch über koloniale Spuren im Bezirk Friedrichshain-Kreuzberg zu erwähnen, denn die zweite maßgebliche Stoßrichtung der damaligen Kämpfe war der Widerstand gegen den Imperialismus. Die Politisierung der Studierendenschaft in Westberlin wurde angestoßen durch die Solidarisierung mit den Freiheitsbewegungen in den ehemaligen kolonialisierten Ländern und den revolutionären Kräften der neuen „3. Welt“. Der antikoloniale Widerstand hatte bereits in den 1950er-Jahren u. a. durch den Kampf Algeriens gegen die französische Kolonialmacht erhebliche Aufmerksamkeit erhalten. Schließlich hatten im Jahre 1960 insgesamt 17 afrikanische Staaten ihre Unabhängigkeit von den europäischen Kolonialmächten erklärt, unterstützt wurden sie von den Vereinten Nationen mit einer „Entkolonisierungsresolution“.[1]
Im geteilten Deutschland manifestierte sich spätestens mit der „Berlin-Krise“ 1958 und dem Bau der Berliner Mauer ab 1961 die unmittelbare Wirkung der Blockkonfrontation des Kalten Krieges. Vor allem die USA schienen an verschiedenen Orten der Welt, insbesondere natürlich in Vietnam, in die Fußstapfen der alten europäischen Kolonialmächte zu treten und einen neuen Imperialismus zu etablieren. Dabei nahmen die politisch interessierten Studierenden auch starken Anteil am Schicksal der Zivilbevölkerung.
Die Führungsrolle der USA erschien zunehmend zweifelhaft, sowohl in der Welt als auch in der Bundesrepublik Deutschland.
„Es müssen die Unterdrückten endlich frei werden können.“[2]
Der Sozialistische Deutsche Studentenbund (SDS) tat sich in den 1960er-Jahren als ein besonders wichtiger Teil der Bewegung des Internationalismus und der Neuen Linken hervor. Der Verband verstand sich als antiautoritär und setzte sich stark für die Außerparlamentarische Opposition (APO) ein; sein Einfluss auf die Studierendenbewegung in Westdeutschland war zentral. Rudi Dutschke, Soziologie-Student der Freien Universität Berlin, wurde ab Anfang 1965 der „Kopf und der innere Motor“ der führenden Fraktion im SDS[3], was nicht zuletzt seinem asketisch wirkenden Aussehen, seinem Charisma sowie seinemzu verdanken war.[4]
Um dem idealisierten, fast schon schwammigen „Ziel einer Welt ohne Hunger und Krieg näherzukommen“, bedurfte es einer Solidarität mit den Unabhängigkeitsbewegungen in den blockfreien Ländern der sogenannten „3. Welt“, die somit zur maßgeblichen Bedingung für den systemrevolutionären Kampf des SDS wurde.[5] Denn Dutschke sah den Kapitalismus unter US-amerikanischer Ägide den Kolonialismus ersetzen, systematisch würden die Sozialrevolutionen verhindert und durch Ressourcenkontrolle und Entwicklungsprogramme neue Abhängigkeiten geschaffen. Der „Zerfall des kapitalistischen Systems“ lag also in der „Auflösung der Verbindung der imperialistischen Staaten und ihren zahlreichen Kolonien.“[6]
„Zwischen den nationalen Kapitalismen und dem Imperialismus als Totalität besteht ein ganz bestimmter Zusammenhang, aus dem eine revolutionäre Strategie abgeleitet werden muß, innerhalb derer den Arbeiterbewegungen in den Ländern des hochentwickelten Kapitalismus neben den revolutionären Bewegungen der „Dritten Welt“ eine präzise Rolle zukommt.“
Im Sinne des Neokolonialismus-Begriffs des ersten ghanaischen Präsidenten Kwame Nkrumah führten für Dutschke die ökonomischen Ungleichheiten und politischen Abhängigkeiten zur Fortführung der Ausbeutung der Entwicklungsländer. Dieses Unrecht werde von den westlichen Medien vertuscht, auch in Deutschland sei Kritik verpönt.[8] Dutschke setzte in seiner solidarischen Arbeit darauf, die Menschen „systematisch“ aufzuklären „über das, was geschieht, was uns tagtäglich in den Zeitungen, in den Rundfunkorganen, auch im Fernsehen, vorenthalten wird“. Denn er sah die revolutionäre Bewegung in einem weltgeschichtlichen Zusammenhang, in dem ein Weltmarkt herrschte, der „die eine Hälfte der Welt ständig mehr verelendet[e]“.[9] Das Thema der ungleichen Berichterstattung und der gezielten Medien- und Meinungskontrolle zwischen Norden und Süden wurde auch auf globaler Ebene relevant und ab Anfang der 1970er-Jahre sogar in der UNESCO intensiv thematisiert.[10]
Dutschke leitete ab 1967 die Projektgruppe „3. Welt / Metropole“, deren Mitglieder sich mit dem imperialistischen Verhältnis analytisch auseinandersetzten. Aufgrund von Dutschkes Begeisterung für den Film „Viva Maria!“ wurde die Gruppe ebenso nach dem Film benannt. In der Komödie von Louis Malle aus dem Jahre 1965 wird die gewaltvolle Revolution im mexikanischen Kontext romantisiert; die europäischen Filmstars Brigitte Bardot und Jeanne Moreau schießen hier in den Diensten der anti-imperialistischen Revolutionäre auf Regierungssoldaten. Was von den Filmemachern als eine Farce auf gewalttätige Revolution gedacht wurde, stand dann als „Viva-Maria-Gruppe“ im Kontext echter revolutionärer Ambitionen.[11] Anhand von Flugblättern und Referaten, die von Studierenden aus den jeweiligen Ländern gehalten wurden, sollte über die realen Situationen vor Ort aufgeklärt werden.[12] Und die Arbeit der Projektgruppe ging darüber hinaus: „Revolutionäre vermehren.“[13] Eine „internationale Arbeitsbrigade“ sollte nach Kuba reisen und dort sowohl infrastrukturell aushelfen als auch eine militärische Ausbildung erhalten, um ein internationales Guerillanetzwerk zu schaffen – in Anlehnung an Ernesto „Che“ Guevaras Pläne in Lateinamerika und Afrika.[14]
Die ausländischen Studierenden aus Asien, Afrika und Lateinamerika, etwa Neville Alexander und Gastón Salvatore, gehörten allerdings zur privilegierten und politisierten Schicht ihrer Herkunftsländer, wenngleich sie „von der Studentenschaft als Repräsentanten der 3. Welt in ihren Reihen gefeiert wurden“.[15] Sie waren fraglos ein entschlossener Kern der Bewegung. Protestaktionen wie bspw. die Demonstrationen im Februar 1961 gegen die Schließung der Universität Teheran oder gegen den Mord an Patrice Lumumba, die durch iranische bzw. afrikanische Studierende organisiert wurden, können sogar als Initialzündung der folgenden deutschen Studierendenbewegung gelten.[16]
„Wir sind nicht hoffnungslose Idioten der Geschichte, die unfähig sind, ihr eigenes Schicksal in die Hand zu nehmen.“[17]
Im Dezember 1964 reiste der kongolesische Ministerpräsident Moïse Tschombé nach West-Berlin, den Dutschke in seinem Tagebuch als „imperialistische[n] Agent[en] und Mörder von [Patrice] Lumumba“ bewertete.[18] Die „Subversive Aktion“, der Dutschke angehörte – eine kleine, aber einflussreiche kulturrevolutionäre Gruppe – tat sich mit dem Afrikanischen bzw. Lateinamerikanischen Studentenbund und dem SDS zusammen, um eine Protestdemonstration mit 400 Menschen zu organisieren.[19] Während der SDS ihm zu jener Zeit zu harmlos erschien, lobte er auf der anderen Seite die Studierenden aus dem Ausland: „Unsere Freunde aus der Dritten Welt sprangen sofort ein, die Deutschen hatten zu folgen.“[20] Diese erfolgreiche Aktion wurde in den Medien breit rezipiert und stellte für den inspirierten Dutschke den „Beginn unserer Kulturrevolution“ dar.[21] An diesem Tag war „erstmalig in West-Berlin die Dritte Welt lebendig geworden“.[22]
Wie seine ausländischen Kommiliton:innen war Dutschke von den Befreiungskämpfen in den Dritte-Welt-Ländern überzeugt. Er sah die Schriften der „bedeutendsten Theoretiker der kolonialen Revolution“, nämlich Che Guevara und Frantz Fanon, als Schlüsselwerke für das Verständnis der Revolutionen in der Dritten Welt an.[23] In ihrem Sinne erkannte er den „neuen Menschen des 21. Jahrhunderts“, der kommen und die Emanzipation von der Fremdherrschaft durchsetzen würde – im Zweifel mit Gewalt gegen den Staat. Insbesondere Fanons psychologisierte Analyse des politischen Bewusstseins und seine Idealisierung des kolonialen Aktivist:innen als Befreier von Unterdrückung hinterließen einen prägenden Eindruck in Dutschkes Schaffen.[25] Er forderte den Austritt der BRD aus der NATO, in der er ein Unterdrückungsinstrument der sozialrevolutionären Bewegung in Europa und in der Dritten Welt sah. Für West-Berlin bzw. sogar für das wiedervereinte Deutschland wünschte er eine Bewegung nach kubanischem Vorbild und die Etablierung einer Rätedemokratie.[26]
Rudi Dutschkes Einfluss auf die Studierendenbewegung, gar seine Stellvertreterrolle, ist unbestritten. Ein Ehrengrab in Dahlem und die nach ihm benannte Straße in Kreuzberg ehren öffentlich sein Wirken. Dutschkes postkoloniales Erbe kann in zwei Richtungen gelesen werden. Zweifellos war er ein weißer Mann, für den die „Dritte Welt“ und seine angeblichen fernen oder auch nahen Akteur:innen als Projektionsfläche für die eigenen Visionen dienten.[27] So schlugen die Proteste teilweise thematisch um: Auch Dutschke nahm an den Kundgebungen gegen den rassistischen italienischen Dokumentarfilm „Africa Addio“ teil, doch bei der darauffolgenden juristischen Aufarbeitung ging es nicht mehr um die antirassistische Gerechtigkeit, sondern lediglich um die eigene deutsche Vergangenheit. Andererseits erbrachte Dutschke ebenso große Leistungen – er trug dazu bei, den Imperialismus, globale Abhängigkeiten, Ungleichgewichte und auch Rassismus auf die öffentliche Tagesordnung zu setzen. Sein theoretischer und aktivistischer Austausch mit lateinamerikanischen, afrikanischen und asiatischen Studierenden zeugen von echtem Interesse, Dialogfähigkeit und auch Selbstkritik. Bei der abschließenden Demonstration des Vietnamkongresses im Februar 1968 in Westberlin ging Dutschke u. a. mit dem Pakistani Tariq Ali, dem US-Amerikaner Dale Smith und dem Chilenen Gastón Salvatore durch die Berliner Straßen, was sich als nachhaltiges Symbol für ein ernsthaft internationales Protestbündnis einordnen lässt.[28] Ohne die Entkolonisierung und die antiimperialistischen Kämpfe der „Dritten Welt“, die als Realität, Anknüpfungspunkt und Inspiration funktionierten, hätte es „68“ in Deutschland in dieser Form nicht gegeben.
Clemens Wildt
ORT
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Rudi-Dutschke-Straße/Axel-Springer-StraßeZitieren des Artikels
Clemens Wildt: Rudi Dutschke im öffentlichen Raum. In: Kolonialismus begegnen. Dezentrale Perspektiven auf die Berliner Stadtgeschichte. URL: https://kolonialismus-begegnen.de/geschichten/rudi-dutschke-im-oeffentlichen-raum/ (03.03.2025).
Literatur & Quellen
[1] (Vereinte Nationen 1960).
[2] Vesper, Bernward, „Rudi Dutschke – Zu Protokoll – Ein Fernsehinterview von Günter Gaus“, in: Voltaire Flugschriften, Frankfurt a.M. 1968,, S.8.
[3] Chaussy, Ulrich, Die Drei Leben des Rudi Dutschke. Eine Biographie, Zürich 1999, S. 182.
[4] Weitbrecht, Dorothee, Aufbruch in die Dritte Welt, Göttingen 2012, S.179; 182.
[5] Dutschke, Rudi, „Proletarischer Internationalismus und Imperialismus“, in: Böckelmann, Frank / Nagel, Herbert (Hg.), Subversive Aktion. Der Sinn der Organisation ist ihr Scheitern, Frankfurt a.M. 1976 (1964b), S. 258–264, hier S.259.
[6] Dutschke, Rudi, „Über das Verhältnis von Theorie und Praxis“, in: Böckelmann, Frank / Nagel, Herbert (Hg.), Subversive Aktion. Der Sinn der Organisation ist ihr Scheitern, Frankfurt a. M. 1976 (1964a),S. 190–194, hier S. 190.
[7] Karl, Michaela, Rudi Dutschke – Revolutionär ohne Revolution, Frankfurt a.M. 2003, S. 97
[8] Vgl. Ebd., S. 97; Slobodian, Quinn, Foreign front. Third World politics in sixties West Germany,Durham 2012, S. 21.
[9] Vgl. Vesper, Rudi Dutschke – Zu Protokoll – Ein Fernsehinterview von Günter Gaus, S. 8-9.
[10] McBride, Sean / International Commission for the study of Communication Problems (Hg.), Many Voices One World. Towards a new more just and more efficient world information and communication order, London / Paris / New York 1980.
[11] Dutschke, Gretchen, Rudi Dutschke – Wir hatten ein barbarisches, schönes Leben, Köln 1996, S.79f.
[12] Vgl. Karl, Rudi Dutschke – Revolutionär ohne Revolution, S. 97.
[13] Vgl. Dutschke, Rudi Dutschke – Wir hatten ein barbarisches, schönes Leben, S. 76.
[14] Vgl. Weitbrecht , Aufbruch in die Dritte Welt, S. 279; Slobodian, Foreign front. Third World politics in sixties West Germany, S. 54f.
[15] Vgl. Weitbrecht, Aufbruch in die Dritte Welt,S. 250.
[16] Vgl. Slobodian, Foreign front. Third World politics in sixties West Germany, S. 19;50.
[17] Vesper, Rudi Dutschke – Zu Protokoll – Ein Fernsehinterview von Günter Gaus, S. 15.
[18] Vgl. Dutschke, Rudi Dutschke – Wir hatten ein barbarisches, schönes Leben, S. 60.
[19] Vgl. Weitbrecht, Aufbruch in die Dritte Welt, S. 152.
[20] Vgl. Dutschke, Rudi Dutschke – Wir hatten ein barbarisches, schönes Leben S. 59.
[21] Vgl. Dutschke, Rudi Dutschke – Wir hatten ein barbarisches, schönes Leben S. 61.
[22] Dutschke, Rudi, „Widersprüche des Spätkapitalismus“, in: Bergmann, Uwe / Dutschke, Rudi / Léfèvre, Wolfgang / Rabehl, Bernd (Hg.), Rebellion der Studenten, Hamburg 1968, S. 33–93, hier S. 64.
[23] Dutschke, Rudi, Bibliographie des revolutionären Sozialismus. Von Marx bis in die Gegenwart. Heidelberg / Frankfurt a.M. / Hannover / Berlin 1969, S. 39.
[24] Vgl. Dutschke, Widersprüche des Spätkapitalismus, S. 91.
[25] Vgl. Slobodian, Foreign front. Third World politics in sixties West Germany, S. 60f.
[26] Hosek, Jennifer Ruth, “Subaltern Nationalism and the West Berlin Anti-Authoritarians”, in: Anderson, Jeffrey J. (Hg.), German Politics & Society, Vol. 26, Nr. 1 (86), (2008),S. 57- 81, hier S. 66f; Karl, Rudi Dutschke – Revolutionär ohne Revolution, S. 101.; Stangel, Matthias, Die Neue Linke und die nationale Frage, Baden-Baden 2013, S. 329 und S. 334.
[27] Vgl. Slobodian, Foreign front. Third World politics in sixties West Germany, S. 11f.; Wolf, Thembi, “Eine schwierige Liebe” in: Burger, Daniela / Eismann, Sonja / Lohaus, Stefanie / Köver, Chris / Tsomou, Margarita (Hg.), Missy Magazine, Heft 02/2018 (2018).
[28] Chin, Rita, “European New Lefts, Global Connections, and the Problem of Difference”, in: Brick, Howard / Parker, Gregory (Hg.), A New Insurgency. The Port Huron Statement and Its Times, Ann Arbor 2015. Online abrufbar unter: https://quod.lib.umich.edu/m/maize/13545967.0001.001/1:9.3/–new-insurgency-the-port-huron-statement-and-its-times?rgn=div2;view=fulltext [letzter Zugriff: 20.12.2020].
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