Kolonialkritik in der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands

In der Katzbachstraße 9 in Kreuzberg steht bis heute ein roter Backsteinbau. Hier befand sich ab 1890, in der Mietwohnung des damaligen Parteisekretärs Ignaz Auer, die zentrale Geschäftsstelle der SPD. Nur wenige Jahre später zog die Partei in die Kreuzbergstraße um.

Deutsches Volk, hast du ein Recht auf Kolonien? Wir haben ein Recht. Die Erde ist für alle Menschen da und groß genug um die gerechten kolonialen Ansprüche aller Völker zu befrieden. (…) Darum, deutsches Volk, mußt du deine Kolonien zurückfordern.[1]

So heißt es in einem 1919 veröffentlichten Aufruf, der auch von SPD-Mitgliedern unterzeichnet wurde.[2] Es blieb nicht der einzige Moment, in dem sich SPD-Politiker:innen prokolonial äußerten. Gerade im Kontext kolonialrevisionistischer Bewegungen, die nach dem Ende des Ersten Weltkrieges und damit nach dem „Verlust“ der deutschen Kolonien großen Zulauf hatten und alles daransetzten, Deutschland als heldenhafte Kolonialmacht zu inszenieren,[3] ergriffen auch SPDler:innen das Wort. So betonte Marie Juchacz – eine Sozialdemokratin und Sozialreformerin, der in Kreuzberg am Halleschen Tor ein Denkmal gewidmet ist –  in einem Artikel die Notwendigkeit des deutschen Kolonialismus und schloss mit folgendem Appell: „Als Glieder des deutschen Volkes, als Mütter kommender Generationen dürfen die deutschen Frauen nicht gleichgültig bleiben, wenn ein wesentliches Gebiet menschlicher Arbeit und menschlichen Glückes, wie es die Kolonisation darstellt, uns abgesperrt werden soll. Es handelt sich hier um Leben und Zukunft unseres Volkes, unserer Kinder.“[4]

Solche und ähnliche Positionen waren innerhalb der Sozialdemokratischen Partei Deutschland nicht unumstritten, auch wenn sie zu diesem Zeitpunkt wohl die Überhand gewonnen hatten. Vielmehr äußerten sich – gerade im 19. Jahrhundert – auch explizite Kolonialgegner:innen. Das Verhältnis der Partei zum (deutschen) Kolonialismus kann als ambivalent bezeichnet werden, dies liegt etwa an der Geschichte der heterogenen Partei, die von ideologischen Gegensätzen, Auseinandersetzungen und Abspaltungen geprägt war.[5]

Als das Deutsche Reich 1884/1885 offiziell begann, Gebiete zu besetzen, zu unterwerfen und auszubeuten, war die SPD (bzw. ihre Vorgängerinnenorganisation) erheblichen Repressionen ausgesetzt. Das sogenannte Sozialistengesetz verbot bis 1890 die politische Betätigung außerhalb des Reichstages. Erst nach dessen Aufhebung trat die Partei unter dem Namen Sozialdemokratische Partei Deutschland auf. Nach anfänglicher Kritik an der deutschen kolonialen Expansion, die vor allem August Bebel und Wilhelm Liebknecht – dem in Kreuzberg in der Adalbertstraße 2 eine Gedenktafel gewidmet ist – im Reichstag artikulierten, wurde diese um die Jahrhundertwende und damit im Kontext von Kolonialskandalen und -kriegen immer schärfer hervorgebracht. Schon 1896 kritisierte unter anderem August Bebel im Reichstag Carl Peters scharf und führte so seine Entlassung mit herbei. Der damalige „Reichskommissar des Kilimanjaro Gebietes“ Carl Peters gilt als Mitbegründer der Kolonie „Deutsch-Ostafrika“; bekannt wurde er vor allem für seine brutale Gewalt.[6] Diese Gewalt beschäftigt die Sozialdemokratie auch im Kontext des sogenannten „Boxer-Krieges“, in dem deutsche Truppen ab 1900 an der Niederschlagung der Widerstandsbewegung beteiligt waren.[7] Ausführlich wurde der Kolonialkrieg und die dazugehörige Stellung der Partei auf einer Parteiversammlung in Mainz diskutiert. Paul Singer, nach dem heute eine Straße im Berliner Bezirksteil Friedrichshain benannt ist, war damals Vorsitzender der SPD, Stadtverordneter von Berlin und Abgeordneter im Reichstag – sein Wahlkreis Berlin IV umfasste auch Teile des heutigen Berliner Bezirks Friedrichshain-Kreuzberg.[8] Er präsentierte auf der Versammlung eine Resolution, die diesen Krieg deutlich verurteilt:

Im Namen der Zivilisation, im Namen der Kultur wird sie angeblich betrieben, die Mittel aber, welche für sie aufgewendet werden, sind der blutigste Hohn auf Zivilisation, auf Kultur. Diese Weltpolitik ist eine Raubpolitik, eine Eroberungspolitik, die unbekümmert um die Gesetze der Moral und Sittlichkeit einfach auf den Gesetzen der brutalen Gewalt basiert und mit den Machtmitteln, welche die Entwicklung der Bourgeoisie geschaffen hat, sich fremde Länder aneignet und die dort wohnenden Völkerschaften unterdrückt.[9]

Die im Anschluss einstimmig angenommene Resolution verurteilt die expansive, kapitalistische Kolonialpolitik, die mit ihr einhergehende, gewaltsame Aneignung und „Unterjochung“ von Menschen sowie die international wachsende Gefahr von Kriegen im Kontext „überseeische[r] Raub- und Eroberungspolitik“. Sie schließt mit folgendem Appell:

Die Sozialdemokratie als Feindin jeder Unterdrückung und Ausbeutung von Menschen durch Menschen erhebt gegen diese Raub- und Eroberungspolitik den entschiedensten Widerspruch. Sie verlangt, daß die wünschenswerthen und erforderlichen Kultur- und Verkehrsbeziehungen zu allen Völkern der Erde dadurch verwirklicht werden, daß die Rechte, die Freiheiten, sowie die Unabhängigkeit dieser Völkerschaften geachtet und gewahrt werden.[10]

Auch gegen die Kriegspolitik in China erhebe die Sozialdemokratie „entschiedensten Einspruch“[11]. Interessanterweise kritisiert Rosa Luxemburg, dass die Arbeiter:innenparteien es international versäumt hätten, geschlossen auf diesen Krieg zu reagieren und auch, dass es versäumt worden wäre, die „gleichgültigen Volksmassen“ gegen diesen zu mobilisieren.[12] Auch wenn der Parteitag schließlich alle Organe der Partei aufforderte, „durch energische Ausbreitung der Protestbewegung die volksschädliche Chinapolitik zu bekämpfen“[13],so lassen sich heute – zumindest im Bezirk Friedrichshain-Kreuzberg – kaum Spuren von Protestmärschen, Veranstaltungen oder Versammlungen gegen diesen Krieg finden.

Dennoch zeigte sich die SPD nicht nur auf dem Parteitag kritisch. Auch im Reichstag und insbesondere in dem Parteiorgan der SPD, der Zeitschrift Vorwärts, die ab 1902 in der Buchdruckerei und Verlagsanstalt Paul Singer und Co in der Lindenstraße 69 gedruckt wurde, fand sie sich wieder. August Bebel bezeichnete die Kolonialkriege[14] im Reichstag als „ein Schandmal für unsere Civilisation; sie sind ein Zeichen für die Verrohung des Völkerrechts.“[15] Und auch im „Vorwärts“ – wurden die sogenannten „Hunnenbriefe“, die Briefe deutscher Soldaten in China, in denen die grausame Gewalt gegenüber Chines:innen deutlich geschildert wird, veröffentlicht und kommentiert. So heißt es:

Die Hunnenbriefe, die im einzelnen ja „aufschneiden“ mögen, sind so zahlreich, daß man mit dem Gerede von Uebertreibungen nicht über diese Scheufälligkeiten hinwegkommt. Es ist so vieles, was übereinstimmend berichtet wird, daß es genügt, um die furchtbare Wahrheit zu erkennen. Die chinesischen Greuelthaten müßten das Todesurteil bedeuten für die verkommene kapitalistisch-militaristische Gesellschaft, auf deren Boden sie erwachsen sind.[16]

Einige Jahre später, zu der Zeit, in der die Partei schon in den neu errichteten Gebäudekomplex in der Lindenstraße 2-4 in Kreuzberg gezogen war, wurde erneut das brutale Vorgehen deutscher Truppen beanstandet. Im Zentrum stand nun der Kolonialkrieg in „Deutsch-Südwestafrika“, in dem das Deutsche Reich mit extremer Härte reagierte, als sich die Herero und Nama gegen ihre Vertreibung und Ausbeutung zur Wehr setzten. Dieser Kolonialkrieg stellte schließlich ? den ersten Genozid des 20. Jahrhunderts dar.

Gerade im „Vorwärts“ wurde dies sehr explizit benannt: In der „Trothaeschen Ausrottungsstrategie“; sei es darum gegangen, „den flüchtenden Hereros jede Möglichkeit der Kapitulation abzuschneiden und sie der Vernichtung preiszugeben.“ Und weiter: „General von Trotha hinderte also direkt die Herero an der Kapitulation. Er trieb sie, wie er selbst zugegeben hat, mit der vollen Absicht in die Wüste, um sie dort dem Tode des Verschmachtens preiszugeben.“[17]

Aber nicht nur der Genozid, sondern auch die extreme Ausbeutung im kolonialen System wurde benannt. Sehr deutlich wurde die Schuld der deutschen Besetzung hervorgehoben:

Vom menschlichen Standpunkte aus ist es den armen, unterdrückten Schwarzen nicht zu verargen, wenn sie schließlich danach trachten, das ihnen aufgebürdete Joch der deutschen Fremdherrschaft abzuschütteln. Durch Gewalt und List hat man sie ihres Landes und ihres Viehstandes beraubt. Sie selbst sind zum großen Teil Sklaven und ihre Frauen Lustobjekte brutaler egoistischer Fremdlinge geworden.[18]

Und weiter: „Es steht jetzt unumstößlich fest, die Hauptschuld an dem Aufstande tragen unsere deutschen Kolonisatoren. Das deutsche Kolonialsystem hat die unterdrückten, ausgebeuteten Eingeborenen zu dieser Verzweiflungstat getrieben.“[19]

Ganz deutlich wurde auch die Frage der Rechtmäßigkeit kolonialer Ansprüche verneint, wenn etwa August Bebel betonte: „(…) Das Land, das die Aufständischen verteidigen, ist ihr Land. Wenn sie sich weigern, es herauszugeben, ist das ihr gutes Recht.“[20]

Nicht nur im „Vorwärts“, sondern auch im Reichstag spielte der Kolonialkrieg in „Deutsch-Südwestafrika“ eine wichtige Rolle. Debattiert wurde vor allem auch die Frage der Kriegskredite. Während sich die Sozialdemokraten in der ersten Abstimmung über die Erhöhung des Budgets noch enthielten, so lehnten sie gemeinsam mit der Zentrumspartei 1907 den geforderten Nachtragsetat ab. In der Folge wurden der Reichstag aufgelöst und Neuwahlen anberaumt. Politisch formierte sich ein breiter (bürgerlicher) Block, der der SPD „Vaterlandsverrat“ und einen vermeintlichen „Umsturzversuch“ vorwarf.[21] Auch wenn die SPD in der Wahl keine Stimmen verlor, sogar welche dazugewann, kostete sie der Zusammenschluss der bürgerlichen Parteien dennoch Sitze und damit politischen Einfluss.[22]

Im selben Jahr fand in Stuttgart der internationale Sozialistenkongress statt, auf dem der Standpunkt der Zweiten Internationale zum Kolonialismus als eine der drängendsten Fragen diskutiert wurde.[23] Die unterschiedlichen Positionen der Sozialist:innen waren mehr als deutlich. Während einige eine Verbesserung der Kolonialpolitik – eine „sozialistische Kolonialpolitik“ – forderten und damit das koloniale System akzeptierten und befürworteten, lehnten andere die koloniale Expansion an sich ab. So argumentiert Eduard Bernstein, dass „eine gewisse Vormundschaft der Kulturvölker gegenüber der Nichtkulturvölker (…) eine Notwendigkeit [sei], die auch Sozialisten anerkennen sollten.“[24] Karl Kautsky hingegen lehnte die „Bevormundung anderer Nationen“ ab: Die Idee einer „sozialistischen Kolonialpolitik“ sei ein „vollständiger logischer Widerspruch“ [25]. Er argumentierte wie folgt:

Es ist ein weitverbreiteter Irrtum, daß die niedrigstehenden Völker der Zivilisation, die ihnen höher stehende Völker bringen, feindlich gegenüberstehen. Alle Erfahrung zeigt im Gegenteil, daß da, wo man den Wilden freundlich entgegenkommt, sie die Werkzeuge und Hülfsmittel der höheren Zivilisation gern annehmen. Kommt man aber, um sie zu unterdrücken und zu unterjochen, sollen sie unter die Bevormundung eines, wenn auch wohlwollenden Despotismus gebracht werden, so werden sie mißtrauisch. Dann verwerfen sie mit der fremden Herrschaft auch die fremde Kultur, dann kommt es zu Kämpfen und Verwüstungen. So sehen wir, daß überall, wo Kolonialpolitik besteht, es nicht zu Hebung, sondern zu Depression der Völker kommt. Auch ein sozialistisches Regime könnte daran nichts ändern. Es müßte ebenfalls die Kolonien als Fremdkörper betrachten und müßte dort eine Fremdherrschaft errichten. Wenn wir zivilisatorisch auf Naturvölker wirken wollen, so ist die erste Notwendigkeit, daß wir ihr Vertrauen gewinnen. Und diese gewinnen wir dadurch, daß wir ihnen die Freiheit geben. (Bravo!)[26]

Auch wenn Kautsky die koloniale Herrschaft ablehnte, wird deutlich, dass seine (grundsätzliche) Kritik am Kolonialismus keinesfalls mit einer antirassistischen Haltung einhergeht. Vielmehr vertraten auch die meisten Sozialdemokrat:innen die Ansicht, dass es eine „zivilisatorische Kluft“ zwischen Europäer:innen und Nicht-Europäer:innen gab.[27] Mit der Idee eines erzieherischen „Kulturauftrages“ blieben auch sie einer unilinearen Vorstellung von fortschrittlicher „Entwicklung“ verhaftet.[28] Statt mit Gewalt, sollte der vermeintliche „Kulturauftrag“ durch Kooperation erreicht werden. Rassistische Ideen und Denkstrukturen wurden allerdings nicht hinterfragt oder kritisiert.

Auf dem Kongress wurde letztendlich mit einer knappen Mehrheit die Resolution der Kolonialkritiker:innen angenommen, in der es heißt:[29]

Der Kongreß ist der Ansicht, daß die kapitalistische Kolonialpolitik in ihrem innersten Wesen nach zur Knechtung, Zwangsarbeit oder Ausrottung der eingeborenen Bevölkerung der Kolonialgebiete führen muß. Die zivilisatorische Mission, auf die sich die kapitalistische Gesellschaft beruft, dient ihr nur als Deckmantel für die Eroberungs- und Ausbeutungsgelüste. Erst die sozialistische Gesellschaft wird allen Völkern die Möglichkeit geben, sich zur vollen Kultur zu entfalten.[30]

Dass solche Positionen bereits zu diesem Zeitpunkt keinesfalls unumstritten waren, zeigt die Debatte, aber auch das knappe Ergebnis der Abstimmung. Auch die Resolution selbst wird teilweise als Kompromiss interpretiert, denn sie besagt, dass die Abgeordneten „für Reformen einzutreten [haben], um das Los der Eingeborenen zu verbessern“[31]. Ob dies als Indiz für eine Unterstützung der reformerischen Kolonialpolitik gelesen werden kann, die eine grundsätzliche Kritik und Ablehnung des kolonialen Systems ablöst, wird nicht ganz deutlich.

Im Pamphlet „Die deutsche Kolonialpolitik“ von 1907, das in der „Vorwärts“-Buchhandlung vertrieben wurde, bestätigte sich die mehrheitliche Ablehnung erneut:

So ist denn das Resultat unserer Erörterungen die runde Ablehnung der Kolonialpolitik für die deutsche Sozialdemokratie. Grundsätzlich bekämpft sie als Partei des proletarischen Klassenkampfes jedwede Unterdrückung und Ausbeutung nicht nur im eigenen Lande, sondern auch in den Kolonien, wo sie zu den schlimmsten Greueln ausartet“[32], so das Fazit der Autor*innen. Weiter heißt es: „Da die Sozialdemokratie als Minderheitspartei im Deutschen Reich ihre grundsätzliche Ablehnung der kapitalistischen Kolonialpolitik noch nicht zur Geltung bringen kann (…) muß sie versuchen, in fortdauernder kritischer und kontrollierender Betätigung im Parlament und in der Presse die Uebel möglichst abzuschwächen (…).[33]

Ob die SPD zu diesem Zeitpunkt die koloniale Ausbeutung nicht mehr grundsätzlich ablehnte und der Idee einer reformerischen Kolonialpolitik anhing, oder ob es sich eher um eine Fokussierung auf Möglichkeiten der Einflussnahme handelte, ist wohl eine Frage der Interpretation. Das Lavieren der SPD war – spätestens als die Abkehr vom Kolonialbesitz immer unwahrscheinlicher wurde –  sicherlich auch von Pragmatismus gekennzeichnet. In jedem Fall lässt sich zu diesem Zeitpunkt auch davon sprechen, dass die kolonialkritische, bzw. antikoloniale Haltung der SPD-Politiker:innen selbst immer mehr zerfiel.

Deutlich wird, dass die Positionen innerhalb der SPD zur kolonialen Expansion, Besatzung, Unterwerfung und Ausbeutung heterogen waren. Während manche das koloniale System nicht grundsätzlich ablehnten, sondern lediglich verbessern wollten, gab es parallel eine – vor allem bis zum Ersten Weltkrieg – starke antikoloniale Argumentationslinie, die lange Zeit sogar die dominante Position war. Kritisiert wurde die brutale Gewalt in den Kolonialkriegen, ebenso aber das koloniale System an sich: die kapitalistische Expansion, die Besatzung von Gebieten und die Ausbeutung von Menschen auf der einen Seite, die Gefährdung des internationalen Friedens und die „Verschwendung“ von (Steuer-)Geldern der Arbeiter*innen auf der anderen Seite.

Die antikolonialen Argumentationslinien innerhalb der Sozialdemokratie verliefen dabei jedoch selten, wie das Beispiel Karl Kautskys zeigt, antirassistisch. Vielmehr blieben sie der Idee eines „Kulturauftrages“ und damit dem unilinearen Entwicklungsmodell verhaftet. Trotzdem waren die Mitglieder der Partei diejenigen, die das Thema der kolonialen Ausbeutung nicht nur im „Vorwärts“, sondern auch im Reichstag immer wieder auf die Tagesordnung brachten und kritisierten. Besonders die massive Gewalt in den Kolonialkriegen verurteilten sie scharf. Spätestens mit dem Beginn des Ersten Weltkriegs – auch im Kontext eines „Generationenwechsels“ in der SPD – gerieten diese Positionen allerdings immer deutlicher in die Defensive. Die nationalen Tendenzen nahmen hingegen weiter zu. Im Jahr 1919 traten dann im Kontext der kolonialrevisionistischen Bewegung auch die grundsätzliche Befürwortung oder Forderung nach deutschem Kolonialbesitz – auch von SPDler:innen – hervor.

provided by FHXB Friedrichshain-Kreuzberg Museum

Mirja Memmen

ORT

Katzbachstraße 9

HEUTE

Lindenstraße 2-4

Zitieren des Artikels

Mirja Memmen: Kolonialkritik in der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands. In: Kolonialismus begegnen. Dezentrale Perspektiven auf die Berliner Stadtgeschichte. URL: https://kolonialismus-begegnen.de/geschichten/kolonialkritik-in-der-sozialdemokratischen-partei-deutschlands/ (03.03.2025).

Literatur & Quellen

[1] Aufruf, in: Kolonie und Heimat, Jg. 12 Nr. 18, 1919, S. 5.

[2] Der Aufruf wird vom „Reichsverband der Kolonialdeutschen“ (die Adresse wird mit Berlin NW 7, Neue Wilhelmstraße 2 angegeben) veröffentlicht.  Es ging darin im Wesentlichen darum, Unterschriften für die deutschen Kolonien zu sammeln. Der Aufruf wird auch im „Vorwärts“ abgedruckt (Vorwärts, Jg. 35 Nr. 95 (21.02.1919), S. 14). Die Unterzeichner sind Max Cohen, Dr. J. Bloch (der Herausgeber der „Sozialistischen Monatshefte“) und Max Schippel, der frühere Parteiarchivar (der zu diesem Zeitpunkt seine Ämter in der SPD niedergelegt hatte).

[3] Vgl. Grosse, Pascal, Kolonialismus, Eugenik und bürgerliche Gesellschaft in Deutschland 1850-1918, Frankfurt am Main 2000,S. 234.

[4] Juchacz, Marie, „Friedensvertrag und Kolonialarbeit“ in: Mansfeld, Alfred (Hg.), Sozialdemokratie und Kolonieen, Berlin 1919,, S. 60.

[5] Vgl. Decker, Frank, Etappen der Parteigeschichte der SPD. 01.09.2020. Online abrufbar unter: https://www.bpb.de/politik/grundfragen/parteien-in-deutschland/spd/42082/geschichte [letzter Zugriff: 10.05.2021].

[6] Schröder, Hans Christoph, Sozialismus und Imperialismus. Die Auseinandersetzung der deutschen Sozialdemokratie mit dem Imperialismusproblem und der „Weltpolitik“ vor 1914. Teil 1, Hannover 1968,S. 153; Guettel, Jens-Uwe, „The Myth of the Pro-Colonialist SPD. German Colonialism and Imperialism before the World War I”, in: Central European History 45 (2012), S. 452-484, hier S. 459.

[7] „Boxer“ ist eine europäische Bezeichnung. Die Selbstbezeichnung ist „Yihequan“, was sich ungefähr mit „Fäuste für Gerechtigkeit und Frieden“ übersetzen lässt; vgl. Kuss, Susanne, „Die Gesetze der Hunnen – der deutsche „Kolonialkrieg“ gegen die Boxer in China“, in: freiburg postkolonial. 2001. Online abrufbar unter: https://www.freiburg-postkolonial.de/Seiten/kuss-china.htm ([letzter Zugriff: 13.06.2021].

[8] Vogel, Hans-Jochen, „Wer war Paul Singer?“, in: vorwärts 2008, Online abrufbar unter:  https://www.vorwaerts.de/artikel/war-paul-singer [letzter Zugriff 06.06.2021]

[9] Protokoll über die Verhandlungen des Parteitages der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands, Berlin 1900,. S. 155-156.

[10] Ebd., S. 245.

[11] Ebd.

[12] Sie bezeichnet den Krieg als „das erste Ereignis der weltpolitischen Aera, in das alle Kulturstaaten verwickelt sind: und dieser erste Vorstoß der internationalen Reaktion, der heiligen Alliance hätte sofort durch einen Protest der vereinigten Arbeiterparteien Europas beantwortet werden müssen.“ Und weiter: „Ich weiß, in einer Woche wird in Paris ein Protest beschlossen werden; aber es kommt doch nicht darauf an, daß die vereinigten sozialistischen Vertreter protestieren – von denen hat kein Mensch bezweifelt, daß sie geschworene Gegner des Krieges mit China sind – , sondern es kam darauf an, in allen Ländern die gleichgültigen Volksmassen aufzurütteln, und in dieser Beziehung fürchte ich sehr, daß unsere Partei nicht nur im eignen Land sich eine Unterlassung hat zu Schulden kommen lassen, sondern auch in Bezug auf die internationale Solidarität“ (Ebd., 165).

[13]Protokoll über die Verhandlungen des Parteitages der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands, S. 245.

[14] Neben dem Krieg in China spricht er auch die Kriege in Transvaal und den Philippinen an.

[15] Reichstag: 115. Sitzung, 11. Januar 1902, zit. nach Vorwärts, 12.02.1902, S. 6.

[16] Vorwärts, 14.11.1900, S. 1.

[17] Vorwärts, 19.07.1906, S. 2.

[18] Vorwärts, 10.04.1904.

[19] Ebd.

[20] Vorwärts, 10.02.1904.

[21] Vgl. van der Heyden, Ulrich, „Kolonialkrieg und deutsche Innenpolitik – Die Reichstagswahlen von 1907, 2007“, Online abrufbar unter: https://www.freiburg-postkolonial.de/Seiten/Heyden-Reichstagswahlen1907.html [letzter Zugriff 05.06.2021].

[22] Ebd.

[23] Vgl. Hoffrogge, Ralf, Sozialismus und Arbeiterbewegung in Deutschland. Von den Anfängen bis 1914, Stuttgart 2011, S. 46.

[24] Internationaler Sozialisten-Kongreß. Berlin 1907,. S. 28.

[25] Vgl. ebd.,S. 30-34.

[26] Ebd. S. 34-35.

[27] Vgl. Koller, Christian, „Eine Zivilisierungsmission der Arbeiterklasse? Die Diskussion um eine „sozialistische Kolonialpolitik“ vor dem Ersten Weltkrieg“, in: Barth, Boris / Osterhammel, Jürgen (Hg.), Zivilisierungsmissionen,Konstanz 2005,. S. 229-245, hier S. 242; Guettel, The Myth of the Pro-Colonialist SPD. German Colonialism and Imperialism before the World War I, S. 472.

[28] Vgl. Heyn, Susanne, „Der kolonialkritische Diskurs der der Weimarer Friedensbewegung zwischen Antikolonialismus und Kulturmission“, in: Stichproben. Wiener Zeitschrift für kritische Afrikastudien 9 (2005), S. 37-65, hier S. 42.

[29] Der sogenannte „Minderheitenentwurf“ wird mit 127 gegen 108 Stimmen angenommen. Schon hier wird deutlich, dass die Position nicht eindeutig war. Im Vergleich dazu wurde die Resolution von Singer – auch wenn es sich dabei um keinen internationalen Kongress handelte – einstimmig angenommen. Vgl. Internationaler Sozialisten-Kongreß 1907, S. 40.

[30] Internationaler Sozialisten-Kongreß 1907, S.40.

[31] Internationaler Sozialisten-Kongreß 1907, S. 40.

[32] Die deutsche Kolonialpolitik. Berlin ca. 1907,S. 16.

[33] Ebd.

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