Antikolonialer Protest: China den Chinesen
Mit dem Ende des Ersten Weltkriegs und dem Verlust deutscher Kolonialgebiete bot die Weimarer Republik mit ihrer politisch relativ offenen Hauptstadt Internationalisten einen gewissen Freiraum, politische Diskussionen und radikale Aktionen zu erproben. Chinesische, indische und koreanische Freiheitsbewegungen nutzten die Möglichkeiten, in Berlin nationale Verbindungen für gemeinsame antiimperialistische Aktionen zu knüpfen. In dieser Umbruchphase der 20er Jahre suchte eine Generation nationalbewusster chinesischer Studierender nach Wegen zur politischen und kulturellen Erneuerung ihrer Heimat. Zwischen Charlottenburg und Friedrichshain organisierten die jungen Akademiker:innen Demonstrationen, Kundgebungen und antikoloniale Protestaktionen. Dafür verfolgten sie unterschiedliche Wege, indem sie mit kommunistischen sozialistischen, und nationalrevolutionären Organisationen zusammenarbeiteten. In den Jahren von 1925 bis 1927 nahmen die Anhänger:innen der noch jungen kommunistischen Partei (KPCh) und Vertreter:innen der Nationalpartei (Sektion der Kuomintang/KMT) gemeinsam an antikolonialen Aktionen teil, die sich gegen die Unterdrückung ihrer Heimat durch Großbritannien und Japan richtete. Gemeinsam mit der KPD und internationalen Unabhängigkeitsbewegungen fanden in Berlin zahlreiche Aktionen zur Unterstützung der nationalrevolutionären Kämpfe in China statt.
Diese antiimperialistische Zusammenarbeit und die breite internationale Solidarität dokumentiert das Bild vom 6. April 1927 in der Parteizeitung Die Rote Fahne. Einprägsam hält es den historischen Augenblick fest: Der deutsche KPD-Führer Ernst Thälmann reicht einem unbekannten – schmalen, beinahe zarten – Chinesen die Hand. Das Foto spricht für sich und benötigt keine weitere Erklärung. Doch eine Textzeile verweist auf die politische Beziehung der Protagonisten: „Danach ergriff Genosse Thälmann die Hand des chinesischen Genossen und besiegelte so das Kampfbündnis der deutschen revolutionären Arbeiterklasse mit den kämpfenden chinesischen Brüdern.“
Der Publizist Kurt Tucholsky äußerte sich 1926 zur propagandistischen Wirkung des Bildes für Werbung und Politik. Seine Überlegungen lassen sich so zusammenzufassen: Ein Bild sagt mehr als tausend Worte. Fotografien gelten bis heute als Beleg eines historischen Ereignisses, einer Wahrheit. Stärker als Texte können sie sich im kollektiven Gedächtnis festsetzen und fungieren in plakativer Form als politische Botschaft, die so zu einem festen Bestandteil unserer kulturellen Erinnerung wird.
Das Foto ist der Beweis einer „internationalen Demonstration von historischer Bedeutung“, das auf der Kundgebung „Gegen den imperialistischen Massenmord in China“ mit 20.000 Teilnehmern im Berliner Sportpalast stattfand. Neben Thälmann und Wilhelm Pieck traten französische, englische und amerikanische Genossen sowie ein Chinese als Redner auf. In seiner Rede brandmarkte Thälmann „die Brutalität, mit der die ausländischen Imperialisten versuchten, das chinesische Volk zu unterjochen. Die Sowjetunion stelle sich als einziges Land auf die Seite des chinesischen Volkes.“ Danach überreichte der chinesische Genosse Tschi dem deutschen Arbeiterführer eine Gewerkschafts- und eine Bauernfahne.[1] Das Foto, das den jungen Chinesen bei der Fahnenübergabe zeigt, galt als historischen Beweis für die enge Zusammenarbeit deutscher und chinesischer Kommunist:innen im gemeinsamen Kampf gegen den Imperialismus. 1932 tauchte es in der Arbeiter-Illustrierte-Zeitung auf und wurde seitdem mehrfach abgedruckt.[2] Welche Bedeutung es in der Frühgeschichte der KP China für die Zusammenarbeit mit der leninistischen KP der Sowjetunion spielte, zeigt, dass es nach Gründung der Volksrepublik China im Pekinger Museum der Chinesischen Revolution ausgestellt wurde.[3]
Lange Zeit blieb die Identität des Genossen Tschi unklar. Inzwischen liefern offiziell zugängliche Dokumente und die Biographie seines Sohnes Hinweise auf seine Person: Xie Yunsan. Zumindest war dies der Name, unter dem er sich für das Studium in Deutschland eingeschrieben hatte. Seine Biographie in Europa begann, als er im Oktober 1919 zusammen mit Hunderten junger Chinesen von Schanghai zum Studium ins Ausland aufbrach. Anders als seine Kommilitonen, die im Rahmen des Werk-Studien-Programms in Frankreich blieben, reiste er zunächst nach England weiter, wo er von 1920-23 eine Militärschule besuchte. Neben der militärpolitischen Ausbildung interessierten ihn besonders die Lebensbedingungen der Arbeiter in den Bergwerken der Region.[4] In Deutschland belegte er an der Universität Göttingen die Fächer Mathematik, Philosophie und Nationalökonomie. Er schloss sich einer politischen Gruppe deutscher und chinesischer Studierender an, zu der auch der spätere Armeeführer Zhu De gehörte. 1925 wurde er Mitglied im chinesischen kommunistischen Jugendverband; ein Jahr später der KPCh, die auch im Ausland Parteigruppierungen unterhielt. „Von ihr bekam er die Aufgabe, im Ausland die chinesische revolutionäre Bewegung zu propagieren und die Verbindung der Kommunistischen Partei mit den kommunistischen Parteien Europas zu fördern.“[5] Damit war die illegale Zusammenarbeit mit Vertretern kommunistischer Organisationen wie der Internationalen Arbeiterhilfe (IAH) und KPD gemeint.
In dieser Zeit lebte er überwiegend in Berlin und wohnte in der Langenbeckstraße im Bezirk Friedrichshain. Dort lebten überwiegend Arbeiter:innen, die meisten ohne Einkommen. Die Mieten waren erschwinglich. Fast täglich gab es Demonstrationen und Proteste, Anhänger der Kommunist:innen lieferten sich mit den Nazis heftige Straßenkämpfe. Han Sens Vater hatte engen Kontakt zu deutschen Kommunist:innen, in deren Wohnungen regelmäßig politische Treffen stattfanden. Für ihn war zudem die Zusammenarbeit im Alltag wichtig. Einige der Genoss:innen, wie die jüdische Kommunistin „Oma Sarah“, kümmerten sich während seiner politischen Aktivitäten um den Sohn. Han Sen erinnerte sich an eine insgesamt unbeschwerte Kindheit. Er erzählte vom Schlittschuhlaufen auf der Kunsteisbahn in der Langenbeckstraße und Schlittenfahrten im Volkspark Friedrichshain, aber auch: „In unserer Wohnung trafen sich oft Kommunisten, Deutsche wie Chinesen, darunter waren auch Zhou Enlai und Zhu De, die später so wichtige Positionen in der Kommunistischen Partei Chinas innehaben sollten.“[6] An dieser Stelle sind seine Angaben allerdings zeitlich ungenau. Offenbar verwechselte Han Sen hier Erzählungen des Vaters mit eigenen Erfahrungen aus der Zeit um 1932, denn die genannten Politfunktionäre hielten sich nach 1924 bzw. dem Spätsommer 1925 nicht mehr in Deutschland auf.
Offiziell arbeitete Xie als Vertreter der Kuomintang mit Organisationen der Komintern zusammen und schrieb regelmäßig unter dem Decknamen Y. S. Hsieh für die „Internationale Pressekorrespondenz“ des Münzenberg-Konzerns über die politischen Entwicklungen in China. Willi Münzenberg, der seit 1919 Mitglied der KPD und Chef der IAH (Internationale Arbeiterhilfe) war, nutzte seine Vielzahl an Publikationen zur politischen Unterstützung der revolutionären Bewegung in China. In Berlin bildete er gemeinsam mit V. Chattopadhyaya und Bohumir Smeral das „Internationale Sekretariat“ der „Liga gegen den Imperialismus und für nationale Unabhängigkeit“.[7]
Xie war nicht der einzige Chinese, der als Student nach Europa gekommen war und sich während seines Aufenthalts der politischen Agitation widmete. An seinem Beispiel lässt sich jedoch ein Teil chinesischer antikolonialer und antiimperialistischer Aktivitäten in den 1920er Jahren bis 1933 nachvollziehen. Oft blieb die Identität der Redner:innen und aktiven Teilnehmenden aus ersichtlichen politischen Gründen im Dunkel. Da die offizielle Parteigeschichte nach 1949 und aus dann vorherrschender Sichtweise geschrieben wurde, widmete sie sich nur unzureichend den individuellen Schicksalen der frühen Aktivist:innen.[8] Andererseits sei unbestritten, „dass die gemeinsamen Kampfaktionen erst durch das mutige persönliche Auftreten von chinesischen Kommunisten zu dem wurden, was sie waren … und ihr breites Echo in der deutschen Öffentlichkeit erlangten.“[9]
Über Aktivitäten der Chinesen, die seit Beginn des 19. Jahrhunderts in Friedrichshain eingewandert waren, gelangten nur vereinzelt Informationen an die Öffentlichkeit. Sie bildeten in den 1920er Jahren rings um den damaligen Schlesischen Bahnhof eine eigenständige chinesische Gemeinschaft von etwa 200 Personen.[10] Die Präsenz der Händler, Kaufleute, Artisten und ehemaligen Seeleute wurde in dem Arbeiterbezirk von der bürgerlichen Presse und offiziellen Stellen wie national-konservativen Parteien, Politikern und Behörden mit Misstrauen wahrgenommen. Laut Liang wurden sie von der Berliner Gesellschaft (gemeint ist die bürgerlich-liberale) praktisch ebenso ignoriert wie die osteuropäischen Jüd:innen hinter dem Alexanderplatz, mit lediglich einer Ausnahme: Wenn Filmgesellschaften Chines:innen als Statist:innen für mongolische Politkommissare in antibolschewistischen Filmen benötigten.[11]
Bei den deutschen Behörden gab es vielfach Vermutungen über illegale Einreisen von kommunistischen Agenten und politisch-radikalen Aktivisten. Grund dafür waren die unterschiedlichen Schreibweisen von Namen und Einreisevermerken in den Pässen der Händler, die unter dem Deckmantel einer Studienaufnahme mit der Transsibirischen Bahn über Moskau einreisten. Allerdings war die Fahrt mit der Bahn einfach billiger. Die Mehrheit der Chinesen in Friedrichshain war zwar wenig an internationaler Politik interessiert, doch auch sie unterstützten die antijapanischen Initiativen und politischen Aktionen zur nationalen Befreiung ihrer Heimat. Wenig bekannt waren die internationalen Verbindungen der ehemaligen Seeleute zu den Streikbewegungen der Hafenarbeiter in Hamburg und Bremen.[12] Das wichtigste Bindeglied zwischen den Studierenden in Charlottenburg und den Händlern in Friedrichshain blieb der nationale Kampf gegen die britische und japanische Herrschaft in China.
Friedrichshain als „Gelbes Quartier“
Lokale Darstellungen schilderten Friedrichshain in grellen Farben als typische Arme-Leute-Gegend, grau und ohne jegliches Grün, mit einer Kneipe an jeder Straßenecke oder einem typischen Berliner „Bouillonkeller“. Angeblich endete für den ehrbaren Berliner die Stadt bereits an der Jannowitzbrücke. Dahinter beginne das, „was der Bürger mit Gruseln als Unterwelt bezeichnet, was sich von seiner Welt nur durch seine Trostlosigkeit unterscheidet“[13].
Weniger literarisch beschreiben Zahlen die soziale Realität. Nach dem Kriegsende lebten die Bewohner:innen des Bezirks unter unzumutbaren sozialen Verhältnissen. In den düsteren Mietskasernen wohnten auf äußerst beengtem Raum mehrheitlich Arbeiter:innen, Kriegsinvaliden und Witwen. 41 Prozent der Wohnungen hatten keine Innentoilette. Von den 90.000 Wohnungen, die einschließlich der Küche aus nur 1-3 Räumen bestanden, hatten 5.000 nicht einmal einen Wasserhahn, 85.000 kein elektrisches Licht, sondern nur Gasbeleuchtung, 6.000 Wohnungen hatten nicht einmal dies.[14] Die Presse beschrieb die Gegend als eine verrufene Welt, die von Arbeitslosigkeit und Alkohol geprägt sei. Ebenso wie Kreuzberg, Neukölln oder Wedding war Friedrichshain ein typischer Arbeiterbezirk, in dem Hilfsarbeiter und Handwerker von ihrem geringen Wochenlohn kaum leben konnten. In dieser Wohn- und Arbeitswelt waren Streitigkeiten, Schlägereien, Diebstahl und Prostitution an der Tagesordnung. Seit der berüchtigten Massenschlägerei zwischen Vertretern des Ringvereins „Immertreu e. V.“ und Zimmerleuten aus Hamburg, die beim Berliner U-Bahnbau eingesetzt waren, fabulierte die national-konservative Presse gar von der „Verbrecherwelt zwischen Andreasplatz und Fruchtstraße“ und verglich die Situation mit der Unterwelt von Chicago.[15] In dieser Gegend lebten die chinesischen Einwanderer oft zu mehreren als Untermieter in Wohnungen in der Kraut-, Andreas- und Markusstraße und hielten sich in einem Schultheißlokal an der Ecke Kraut-Langestraße auf, in dem sie auch ihr Essen kochen durften.[16] Die zeitgenössische Berichterstattung meinte, eine Art exotisch-unheimliches Chinatown zu entdecken. Von ihr erhielt die Gegend zwischen Schlesischem Bahnhof und Friedrichshain den Namen „Gelbes Quartier“.[17]
Gemeinsame antikoloniale Aktivitäten
Seit dem Ende der Inflation hatten sich die sozialen Verhältnisse auch für die Studierenden aus wohlhabenden Familien verändert. Das Leben in Charlottenburg war zu teuer geworden, daher hatte sich der Lebensraum der Studierenden innerhalb der Stadt verschoben, ihre politischen Aktionen fanden in den Arbeiterbezirken statt: In den Andreasfestsälen in der Andreasstraße hielt die Internationale Arbeiterhilfe (IAH) ihre Kundgebungen ab. Treffpunkt für kommunistische Aktivitäten war die Lange Straße, in deren Nummer 56 der Verlag der Jugendinternationale seinen Sitz hatte und für konspirative Aktionen gab es bis 1932 im Friseurladen Nummer 23 zwei Ausgänge.[18]
Außer Xie wohnte auch Liao Huanxing (Liau) nicht im bürgerlichen Charlottenburg. Er führte ebenso wie Zhu De während der Einheitsfront ein Doppelleben. Liao war seit 1922 Parteimitglied der KPCh und in deren Auftrag nach Europa gekommen. Offiziell war er Student an der Berliner Universität, übermittelte aber gleichzeitig die Direktiven der KP-Zentrale an die Mitglieder in Europa.[19] Unter dem Pseudonym Tang Shin She schrieb er für Komintern-Organe wie „Internationale“ und „Internationale Pressekorrespondenz“. Für „Die Rote Fahne“ propagierte er unter dem Titel „China den Chinesen“ den Freiheitskampf des chinesischen Proletariats (06.06.1925) und in der AIZ berichtete er über die China-Konferenz der IAH vom August 1925. Liao, der gut Deutsch sprach und mit einer deutschen Arbeiterin verheiratet war, war in der Stadt breit vernetzt. Er arbeitete im Büro der „Liga gegen Imperialismus“, und war ein enger Mitarbeiter von Münzenberg. Redaktion und Verlag der Zeitung befanden sich in der Friedrichstraße 225 Berlin SW 48, Kreuzberg. Die kleine Gruppe chinesischer Kommunisten war bis 1933 in einer Parteizelle der KPD zusammengeschlossen, die sich „Zirkel für chinesische Sprache“ nannte. Die Organisation hatte 10-15 Mitglieder, u. a. Xie, Hu Lanqi (Freundin von A. Seghers), Wang Bingnan und Cheng Qiying (Mutter von Han Sen). Alle bewegten sich in Berlin im Umfeld deutscher sozialistischer und kommunistischer Künstler:innen und Intellektueller. So bestätigte Anna Seghers ihre direkten und engen Kontakte mit den in Berlin lebenden chinesischen Studierenden. Sie spielten bei ihren Werken eine bedeutende Rolle.[20] „Den Stoff zu den Büchern, in denen die Rede ist von chinesischen Begebenheiten …, folgt meistens dem Bericht chinesischer Freunde und Genossen oder ihren mündlichen und schriftlichen Übertragungen aus chinesischen Zeitungs- oder anderen Texten.“[21]
Cheng kannte aus ihrer Göttinger Zeit Zhu De und andere Mitglieder der KPCh, war jedoch kein Mitglied der Partei. Sie war aktiv im „Internationalen Sozialistischen Kampfbund“ (ISK), der sich gegen den aufkommenden Faschismus für eine Einheitsfront von Sozialdemokrat:innen und Kommunist:innen einsetzte. Auf zahlreichen Kundgebungen sprach sie über die Lage in China und die Aufgabe des europäischen Proletariats, war jedoch wegen ihrer radikalen Positionen und Zusammenarbeit mit deutschen Organisationen wie der „Liga für Menschenrechte“ auch innerhalb der chinesischen Aktivisten isoliert.
Der Kongress gegen koloniale Unterdrückung
Im Februar 1927 organisierte der Reichstagsabgeordnete Willi Münzenberg und Leiter der IAH in Brüssel den „Kongress gegen koloniale Unterdrückung und Imperialismus“, an dem über 170 Delegierte aus mehr als zwanzig Ländern teilnahmen.[22] Auf dem Treffen wurde auch die „Liga gegen Imperialismus und nationale Unabhängigkeit“ gegründet, die in Berlin in der Kreuzberger Friedrichstraße 24 ihr Büro hatte. Eine wichtige Aufgabe war die Zusammenarbeit der indischen und chinesischen Unabhängigkeitsbewegung. Mitglieder des Exekutivkomitees waren neben Liao, J. Nehru und V. Chattopadhyaya; allgemein Chatto genannt. Auch Xie war als Delegierter der KMT unter seinem Namen Y. S. Hsieh vertreten. Welch enges politisches Netzwerk zwischen den Vertreter:innen der verschiedenen kommunistischen bzw. nationalrevolutionären Organisationen bestand, zeigen die Erinnerungen und Aufzeichnungen von Agnes Smedley, Anna Seghers und Babette Gross. Wichtiges Instrument für die Organisation und Propaganda der verschiedenen politischen Parteizellen bildeten Nachrichten- und Presseorgane. Für die internationale Berichterstattung wurde Münzenbergs Presse (u. a. Arbeiter Illustrierte Zeitung) genutzt. Nach Angaben seiner Witwe Babette Gross hatte die KMT eine eigene Nachrichtenagentur in Friedrichshain, „mit dessen Sekretär, dem jungen und eifrigen Liau, Münzenberg befreundet war.“[23] Die amerikanische Journalistin Agnes Smedley, liiert mit dem indischen Freiheitskämpfer V. Chattopadhyaya, hatte enge Kontakte zu dem von ihm gegründeten „Indian Revolutionary Committee“, das seit 1915 Presseinformationen über die indische Freiheitsbewegung verbreitete. Es diente dazu, die Unabhängigkeitsbewegung zu stärken, den bewaffneten Kampf gegen die Briten zu organisieren und Freiwillige für den Unabhängigkeitskampf zu rekrutieren. In einer Biographie über Agnes Smedley nennt der Autor als Ziel, Chinesen und Inder als gemeinsame Opfer des britischen Imperialismus zu vereinigen.[24] Die Journalistin und Aktivistin für die Gründung einer „Ehe- und Sexualberatungsstelle“ in Berlin verfügte während ihrer Zeit in Berlin über enge Kontakte zu deutschen linken Künstlerinnen wie Tilla Durieux und Käthe Kollwitz als auch zu indischen und chinesischen Kommunisten. Dazu zählte auch der spätere Begründer der Volksarmee Zhu De, über den sie eine Biographie verfasste.
Antijapanische Aktion 1932
Es gab nur wenige chinesische Studierende, die in Charlottenburg wohnten und mit ihren Landsleuten im Osten der Stadt zusammenarbeiteten. Eine Ausnahme bildete Wang Bingnan, der während seines Aufenthalts in Berlin (1931-1936) das Viertel am Schlesischen Bahnhof entdeckt hatte, welches seine deutsche Lebensgefährtin Anna als „Gorki-haftes Milieu“ bezeichnete.[25] Wang, der Mitglied der KPCh war, studierte an der Hochschule für Politik und arbeitete eng mit der KPD in Berlin-Halensee zusammen. Er suchte Kontakt zu „revolutionären“ Jugendlichen aus anderen asiatischen Ländern und knüpfte Beziehungen zu den Landsleuten in den Arbeitervierteln, die er für Kurierdienste und verschiedene Aktionen einsetzte.[26] Mitglieder wie Wang hatten sich in einem „Zirkel für chinesische Sprache“ bei der KPD zusammengeschlossen, deren Hauptaufgabe die politische Propagandaarbeit war, um chinesische Studierende im Ausland zu organisieren. Die kleine politische Zelle bestand zeitweise aus 10-15 Mitgliedern, u. a. Li Kang sowie zwei Frauen und dem Sekretär Xie. Nach dem Bruch der Einheitsfront von Nationalpartei und KPCh war angesichts der Bedrohung durch Japan 1931/32 als breites Bündnis eine „Antiimperialistische Liga der Chinesen in Deutschland“ gegründet worden.[27].
Den antijapanischen Kampf trugen Wang und einige Genossen ganz direkt in Berlin aus, indem sie im April 1932 die Scheiben von zwei japanischen Restaurants in Wilmersdorf einwarfen. Um die hierfür benötigten Pflastersteine hatten die Aktivisten Flugblätter mit antijapanischen Parolen gewickelt: „Das japanische Räubergesindel wird sich an der Kampfbereitschaft des internationalen Proletariats die Zähne ausbeißen!“ Mehrere chinesische Studierende wurden von der Staatsanwaltschaft zum Verhör geladen, darunter Wang, Li Kang und Xie. Alle drei behaupteten, Veranstaltungen von IAH und KPD nur aus nationalem Interesse besucht zu haben und ansonsten über den Vorfall nichts zu wissen. Da die Chinesen – „wie vertraulich mitgeteilt wurde“ – sich sofort nach Erhalt der Vorladung mit der Chinesischen Gesandtschaft in Verbindung gesetzt hatten, wurde der Fall nicht weiterverfolgt.[28]
1933 musste ein Teil der chinesischen Kommunisten Deutschland verlassen. So suchte Han Sen mit seinem Vater (mit neuer Identität) Zuflucht in der Schweiz. Wang Bingnan konnte 1936, kurz vor der drohenden Verhaftung durch die Gestapo gewarnt, gerade noch mit seiner deutschen Frau ausreisen.[29] Auch Li kehrte über Moskau nach China zurück. Hu Lanqi wurde festgenommen und veröffentlichte ihr Schicksal nach der Inhaftierung „In einem deutschen Frauengefängnis“ zuerst in Paris. Cheng Qiying wurde nach ihrem Gefängnisaufenthalt aus Deutschland ausgewiesen. Und Liao Huanxing war bereits 1927 nach Moskau abberufen und 1938 verhaftet worden. Erst 1951 durfte er nach China ausreisen. Chatto starb während der „Säuberungen“ in der Sowjetunion.
Dagmar Yu-Dembski
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Zitieren des Artikels
Dagmar Yu-Dembski: Antikolonialer Protest: China den Chinesen. In: Kolonialismus begegnen. Dezentrale Perspektiven auf die Berliner Stadtgeschichte. URL: https://kolonialismus-begegnen.de/geschichten/antikolonialer-protest-china-den-chinesen/ (03.03.2025).
Literatur & Quellen
[1] Vgl. Felber, Roland / Hübner, Ralf, „Chinesische Demokraten und Revolutionäre in Berlin“ in: „Zur Geschichte der deutsch-chinesischen Beziehungen (1900-1949)“, Wissenschaftliche Zeitschrift der Humboldt-Universität zu Berlin, Jg. 37, Heft 2(1988), S. 157-172.,hier S. 161.
[2] Vgl. Han, Sen Ein Chinese mit dem Kontrabass, München 2001.
[3] Vgl. Felber / Hübner, Chinesische Demokraten und Revolutionäre in Berlin, S. 161.
[4] Kampen, Thomas, Chinesen in Europa – Europäer in China. Journalisten, Spione, Studenten, Gossenberg 2010,S. 76.
[5] Han, Ein Chinese mit dem Kontrabass, S. 12.
[6] Ebd., S. 14.
[7] Siehe dazu den Beitrag von Mark Terkessidis in der vorliegenden Publikation.
[8] Vgl. Schwarcz, Vera, Time for Telling Truth is Running Out. Conversations with Zhang Shenfu, New Haven / London 1992,S. 94ff.
[9] Felber / Hübner, Chinesische Demokraten und Revolutionäre in Berlin, S. 159.
[10] Vgl. Liang, Hsi-Huey, The Sino-German Connection: Alexander von Falkenhausen beween China and Germany, 1900-1941, Assen 1978; Yü-Dembski, Dagmar „China in Berlin, 1918-1933. Vom chinesischen Alltag und deutscher Chinabegeisterung“, in: Kuo, Heng-yü (Hg.), Berlin und China. Dreihundert Jahre wechselvolle Beziehungen, Berlin 1987, S. 117-130, hier S. 117.
[11] Vgl. ebd., S. 42-43.
[12] Vgl. Felber / Hübner, Chinesische Demokraten und Revolutionäre in Berlin, S. 168.
[13] Heimatkalender 1932 für den Bezirk Friedrichshain, Berlin 1932..
[14] Vgl. Der Berliner Osten. Auf Anregung des Bezirksamtes Friedrichshain, Berlin 1930, S. 22; Yü-Dembski, China in Berlin, 1918-1933. Vom chinesischen Alltag und deutscher Chinabegeisterung, S. 117.
[15] Vgl. „Racheakt an einem Chinesen“, in: Tägliche Rundschau, 11.04.1925.
[16] Vgl. Yü-Dembski, China in Berlin, 1918-1933. Vom chinesischen Alltag und deutscher Chinabegeisterung, S. 119.
„[17] Im Chinesenviertel. Die Chinesenkneipe/Falsche Chinawaren/Würdelose deutsche Weiber“, in: Tägliche Rundschau, 23.04.1925.
[18] Vgl. Beiträge, Dokumente, Informationen des Archivs der Hauptstadt der DDR. Schriftenreihe des Stadtarchivs Berlin, Berlin 1971. Nr. 2., S. 115 ff.
[19] Vgl. Kampen, Chinesen in Europa – Europäer in China. Journalisten, Spione, Studenten, S. 47.
[20] Li, Weijia, China und China-Erfahrung in Leben und Werk von Anna Seghers, Frankfurt a. Main 2010,S. 71.
[21] Ebd..
[22] Vgl. Kampen, Chinesen in Europa – Europäer in China. Journalisten, Spione, Studenten, S. 49.
[23] Zit. n. Kampen, Chinesen in Europa – Europäer in China. Journalisten, Spione, Studenten, S. 47
[24] MacKinnon, Janice R. / MacKinnon, Stephen, Agnes Smedley. The Life and Times of an American Radical, Berkeley 1988, S. 164.
[25] Vgl. Liang, The Sino-German Connection: Alexander von Falkenhausen beween China and Germany, 1900-1941,S. 43.
[26] Vgl. Hu, Lanqi, Huiyi Lu 1901-1936. (Erinnerungen 1901-1936), Chengdu 1985, S. 227; Liang, The Sino-German Connection: Alexander von Falkenhausen beween China and Germany, 1900-1941, S.37.
[27] Vgl. Yü-Dembski, Dagmar, „Lebenskonzepte chinesischer Intellektueller in Deutschland, 1920-1941“, in: Kuo, Heng-yü / Leutner, Mechthild (Hg.), Deutsch-chinesische Beziehungen vom 19. Jahrhundert bis zur Gegenwart. Beiträge des Internationalen Symposiums in Berlin, München 1991, S. 315-344, hier S. 332.
[28] Vgl. Yü-Dembski, China in Berlin, 1918-1933. Vom chinesischen Alltag und deutscher Chinabegeisterung, S. 129.
[29] Vgl. Wang, Anna, Ich kämpfte für Mao, Hamburg 1973, S. 22.
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