Der Prenzlauer Berger Victor Bell
Victor Bell wurde am 15. Juli 1890 in der Stadt Douala (auch Duala) in der damaligen deutschen Kolonie Kamerun geboren.[i] Vermutlich war er ein Adoptivsohn oder -enkel von Ndumbe Lobe Bell (1823–1897), einem der einer der wichtigsten Herrscher der Duala.[ii]
Leben in Prenzlauer Berg
Victor Bell kam um 1908 mit circa 18 Jahren nach Berlin. Obwohl sich das Deutsche Reich damals keinesfalls als Einwanderungsland verstand, gab es Einwanderung aus den Kolonien. Es kamen u. a. jungen Menschen – überwiegend Männer – aus einflussreichen Familien zur Ausbildung nach Deutschland, andere kamen als angestellte Bedienstete von Kaufleuten oder Kolonialbeamten, als Darsteller für sogenannte „Völkerschauen“ oder als Reisende oder Seeleute.
Die finanzielle und rechtliche Situation von Kolonialmigrant*innen in Deutschland war zumeist prekär. Eine dauerhafte Einwanderung von Menschen aus den Kolonien war zwar faktisch Realität, vonseiten der Behörden jedoch nicht erwünscht. Selten gelang es ihnen, die deutsche Staatsangehörigkeit zu bekommen. Sie galt in Deutschland als „Schutzgebietsangehörige“, hatten kein Wahlrecht und keinen Zugang zu Sozialversicherungen.
Victor Bell wohnte von 1917 bis zu seinem Tod 1952 in der Driesener Straße 4 in Prenzlauer Berg, im ersten Stock des Hinterhauses. Die meiste Zeit seines Lebens, rund 35 Jahre lang, war Victor Bell also Prenzlauer Berger. Hier in Prenzlauer Berg lebten einige weitere Personen aus Kamerun, zum Beispiel Theophilus Wonja Michael (1879–1934) mit seiner Familie, u. a. in der Mühlhauser Straße 2 sowie in der Prenzlauer Allee 226.[iii]
Im Dezember 1919, heirateten Victor Bell und Alwine Wilhelmine Schreiber, geb. Liepert (1878–1947). Alwine Bell war 12 Jahre älter als Victor Bell, stammte aus Berlin, war Arbeiterin und bereits in erster Ehe geschieden. Nach bisherigem Forschungsstand blieb die Ehe kinderlos. Die Ehe wurde offensichtlich problemlos geschlossen. Das war jedoch nicht selbstverständlich. Denn es gab bereits lange vor den „Nürnberger Gesetzen“ der Nationalsozialisten eine breite Debatte über sogenannte „Mischehen“ zwischen „Kolonialuntertanen“ und Deutschen. Diese hochgradig rassistische und sexistische Debatte zeigte heiratswilligen Paaren, dass ihre Verbindung von vielen als unerwünscht angesehen wurde.[iv]
In den ersten neuen Jahren in Berlin arbeitete Victor Bell in wechselnden Berufen. Seit 1917 lautete seine Berufsbezeichnung stets (Film-)Schauspieler oder Artist. Eine feste Beschäftigung zu finden war für Kolonialmigrant*innen zumeist schwierig. Nur wenige übten dauerhaft einen sogenannten bürgerlichen Beruf (Handwerker, Kleinunternehmer) aus. In Krisenzeiten waren sie häufig die Ersten, die entlassen wurden. Viele verlegten sich daher auf künstlerische Berufe, wurden Schauspieler*in oder Musiker*in.
Es ist nicht ganz einfach nachzuweisen, in welchen Filmen Victor Bell mitspielte, denn Kleindarsteller*innen wurden nur sehr selten in den Besetzungslisten aufgeführt oder im Abspann der Filme genannt. Nachgewiesen ist zum Beispiel, dass Victor Bell 1920 als „Tochtili“ in „Das Wüstengrab“ auftrat und im folgenden Jahr im Abenteuerfilm „Die Insel der Verschollenen“. Außerdem spielte Victor Bell auf Berliner Theaterbühnen und er agierte als Darsteller in sogenannten „Völkerschauen“.[v]
Politisches Engagement
Nach dem Ersten Weltkrieg engagierte sich Victor Bell in mehreren Vereinen und Initiativen, die sich für die Rechte Schwarzer Menschen in Deutschland einsetzten. 1918 war er an der Gründung des „Afrikanischen Hilfsvereins“ beteiligt.[vi] Außerdem unterzeichnete er die von Martin Dibobe (Quane a Dibobe) (1876–nach 1922) initiierte Petition, die sich im Juni 1919 an die Weimarer Nationalversammlung richtete. Dibobe stammte ebenfalls aus Kamerun und lebte seit 1896 in Berlin, unter anderem in der Kuglerstraße 44 in Prenzlauer Berg. In der Petition versicherten die Unterzeichnenden zwar, loyal die junge deutsche Republik zu unterstützen, protestierten jedoch gegen die Ausbeutung der Kolonien und gegen die Entmündigung der Menschen dort. Victor Bell unterzeichnete die Petition an zweiter Stelle, direkt unter Martin Dibobe und, anders als die meisten anderen Unterzeichner, mit voller Adresse.[vii]
Mit der Ratifizierung des Versailler Vertrags verlor das Deutsche Reich sämtliche Kolonien. Victor Bell blieb in Berlin obwohl sich die rechtliche und wirtschaftliche Lage der meisten Kolonialmigrant*innen auch in der Weimarer Republik kaum verbesserte.[viii]
Im September 1929 wurde Victor Bell Präsident der „Liga zur Verteidigung der N[…]rasse e. V.“ (LzVdN). Die Liga verband die Anliegen einer lokalen Selbsthilfegruppe mit einem radikal antikolonialen Anspruch und war außerdem stark von der Kommunistischen Internationalen (Komintern) inspiriert. Victor Bell war zwar Präsident der LzVdN, Hauptakteur war jedoch Joseph Ekwe Bilé (1892–1959). Die Liga formulierte ein antirassistisches, antikoloniales Programm, forderte das Selbstbestimmungsrecht afrikanischer Länder und das Ende des Kolonialismus sowie die weltweite Gleichberechtigung Schwarzer Menschen. Wichtig waren Victor Bell Kontakte zu US-amerikanischen Bürgerrechtsaktivisten. Er veröffentlichte mehrere Artikel und Leserbriefe in afroamerikanischen Zeitungen.[ix]
Die Herrschaft der Nationalsozialisten
Als die Nationalsozialisten in Deutschland an die Macht kamen, war Joseph Bilé in Moskau und er kehrte verständlicherweise nicht nach Berlin zurück. Victor Bell hingegen blieb in Berlin und musste der SA über die LzVdN und über den Verbleib ihrer Mitglieder Rede und Antwort stehen.[x]
Die Herrschaft der Nationalsozialisten bedeutete für Schwarze Menschen drastische rechtliche und wirtschaftliche Einschränkungen. Ihre beruflichen Chancen verschlechterten sich massiv. Viele Pässe wurden eingezogen, so dass die Menschen staatenlos wurden. Die Nationalsozialisten förderten rassistische anthropologische „Forschungen“ und ließen ohne gesetzliche Grundlage vermutlich hunderte Zwangsterilisationen insbesondere an jungen Afrodeutschen durchführen. Einige Schwarze Menschen wurden in Konzentrationslager verschleppt und dort ermordet. [xi]
In Deutschland mussten nach 1933 alle Filmdarsteller*innen Mitglied der sogenannten Reichsfilmkammer sein. Für einen Beitritt war der Nachweis „deutscher“ Abstammung obligatorisch. Zwar wurden Afrikaner*innen und Afrodeutsche ebenso wenig wie Jüdinnen und Juden in die Reichsfilmkammer aufgenommen. Dennoch wurden während der Zeit des Nationalsozialismus zahlreiche Filme mit Beteiligung Schwarzer Menschen gedreht.
So setzte Victor Bell trotz Repressionen zunächst seine künstlerische Tätigkeit fort. Im Februar 1934 sang er für das Institut für Lautforschung Lieder in Duala ein. Textanalysen zeigen, dass einige davon historische Erfahrungen mit Kolonialismus und Ausbeutung verarbeiten. Sie können als politische Botschaft gelesen werden und als Ausdruck seiner „persönlichen Identität“.[xii]
Seit 1939 versuchten die Nationalsozialisten, Schwarzen Menschen den Auftritt in der Öffentlichkeit grundsätzlich zu verbieten.[xiii] Allerdings setzte sich dieses Verbot offenbar nur langsam durch. Victor Bell trat zum Beispiel 1938 in der Kriminalkomödie „Nanu, Sie kennen Korff noch nicht?“ auf. Außerdem war er am Dreh der beiden nationalsozialistischen Kolonialpropagandafilme „Carl Peters“ (1940/41)[xiv] und „Ohm Krüger“ (1941)[xv] beteiligt. Die letzten Filmaufnahmen Victor Bells, über die uns Belege vorliegen, fanden im Sommer 1941 in Rom statt, als er im Film „Vom Schicksal verweht“ einen Verkehrspolizisten spielte.[xvi]
Leider haben wir aus den letzten Kriegsjahren keinerlei Quellen zu Victor Bell. Wie genau er und seine Ehefrau den Krieg überstanden, womit sie ihren Lebensunterhalt verdienten und wie sie das Kriegsende erlebten, wissen wir nicht. Auch über Victor Bells letzte Lebensjahre nach dem Krieg im sowjetisch besetzten Teil der Stadt und in der neu gegründeten DDR ist nichts bekannt. Alwine Bell starb 1947. Fünf Jahre später starb Victor Bell in seiner Wohnung in der Driesener Straße 4 in Prenzlauer Berg.
Johanna Niedbalski
ORT
Driesener Str. 4, 10439 BerlinHEUTE
Zitieren des Artikels
Johanna Niedbalski: Der Prenzlauer Berger Victor Bell. In: Kolonialismus begegnen. Dezentrale Perspektiven auf die Berliner Stadtgeschichte. URL: https://kolonialismus-begegnen.de/geschichten/der-prenzlauer-berger-victor-bell/ (24.10.2024).
Literatur & Quellen
[i] Dies ist die stark gekürzte Fassung eines längeren Aufsatzes über Victor Bell, der erschienen ist in: Bernt Roder (Hg.), (De)Koloniale Spuren in Pankow, Berlin 2004, S. 79-95. Dieser gedruckte Aufsatz enthält weitere biografische Details, historische Einordnungen und ausführliche Literatur- und Quellenangaben.
[ii] Ich danke Robbie Aitken herzlich für seine Hinweise! Vgl. außerdem Robbie Aitken, Eve Rosenhaft, Black Germany: The Making and Unmaking of a Diaspora Community, 1884–1960, Cambridge 2013; Jean-Pierre Félix Eyoum, Stefanie Michels, Joachim Zeller, Bonamanga. Eine kosmopolitische Familiengeschichte, in: Mont Cameroun. Afrikanische Zeitschrift für interkulturelle Studien zum deutschsprachigen Raum (2005) Heft 2, S. 11–48.
[iii] Zur Familiengeschichte von Theophilus Wonja Michael vgl. die Autobiografie seines Sohnes: Theodor Michael, Deutsch sein und Schwarz dazu. Erinnerungen eines Afro-Deutschen, München 2013.
[iv] Vgl. hierzu Katharina Oguntoye, Schwarze Wurzeln. Afro-deutsche Familiengeschichten von 1884 bis 1950, Berlin 2020, S. 82ff; Dominik Nagl, Grenzfälle. Staatsangehörigkeit, Rassismus und nationale Identität unter deutscher Kolonialherrschaft, Frankfurt am Main 2007, S. 160ff; Fatima El-Tayeb, Schwarze Deutsche. Der Diskurs um „Rasse“ und nationale Identität 1890–1933, Frankfurt am Main 2001, S. 146f. Zur allgemeinen Debatte über Sexualität, Nation und „Rasse“ um 1900 vgl. Fatima El-Tayeb, Verbotene Begegnungen – unmögliche Existenzen. Afrikanisch-deutsche Beziehungen und Afro-Deutsche im Spannungsfeld von race und gender, in: Marianne Bechhaus-Gerst, Reinhard Klein-Arendt (Hg.), Die (koloniale) Begegnung. AfrikanerInnen in Deutschland 1880–1945. Deutsche in Afrika 1880–1918, Frankfurt am Main u. a. 2003, S. 85ff.
[v] Im Januar 1927 spielte er zum Beispiel im Lustspiel Dover-Calais von Julius Berstl im Komödienhaus am Schiffbauer Damm 25. Zu den damaligen Völkerschauen vgl. Michael, Deutsch sein, S. 18ff. Zu den Filmauftritten vgl. Tobias Nagl, Die unheimliche Maschine. Rasse und Repräsentation im Weimarer Kino, München 2009.
[vi] Statut des Afrikanischen Hilfsvereins, in: Staatsarchiv Hamburg, 373-7 I_IV E I 107. Vgl. zum Afrikanischen Hilfsverein etwa Peter Martin, Der Afrikanische Hilfsverein von 1918, in: Ders., Christine Alonzo (Hg.), Zwischen Charleston und Stechschritt. Schwarze im Nationalsozialismus, Hamburg 2002, S. 73ff; Aitken, Rosenhaft, Black Germany, S. 129ff; Adolf Rüger, Imperialismus, Sozialreformismus und antikoloniale demokratische Alternative, in: Zeitschrift für Geschichtswissenschaft 23 (1975) Heft 11, S. 1293ff.
[vii] „An die Nationalversammlung in Weimar“, 19.06.1919, in: BArch R 1001/7220, S. 234f. Zu Martin Dibobe vgl. etwa Eve Rosenhaft, Robbie Aitken, Martin Dibobe, in: Ulrich van der Heyden (Hg.), Afrikaner im deutschsprachigen Europa vom 18. Jahrhundert bis zum Ende des Zweiten Weltkrieges, Berlin 2008, S. 162ff; Stefan Gerbing, Afrodeutscher Aktivismus. Interventionen von Kolonisierten am Wendepunkt der Dekolonisierung Deutschlands 1919, Frankfurt am Main 2010, S. 47ff. Am Haus Kuglerstraße 44 in Prenzlauer Berg befindet sich seit 2016 eine Gedenktafel zu Ehren von Martin Dibobe.
[viii] Vgl. etwa Katharina Oguntoye, Eine afro-deutsche Geschichte: Zur Lebenssituation von Afrikanern und Afro-Deutschen in Deutschland von 1884 bis 1950, Berlin 1997, S. 21ff.
[ix] Vgl. Vgl. Aitken, Rosenhaft, Black Germany, S. 205ff; Nagl, Die unheimliche Maschine, S. 620ff; Robbie Aitken, Embracing Germany: Interwar German Society and Black Germans through the Eyes of African American Reporters, in: Journal of American Studies 52 (2018) Heft 2, S. 469; Aitken, Rosenhaft, Black Germany, S. 214, 216.
[x] Schreiben Victor Bells an das Amtsgericht Charlottenburg vom 24.08.1934, in: LAB B Rep. 042 Nr. 9054.
[xi] Vgl. etwa El-Tayeb, Schwarze Deutsche, S. 178ff, 188ff. Bayume Mohamed Husen (Mahjub bin Adam Mohamed) (1904–1944), der aus der Kolonie „Deutsch-Ostafrika“, heute Tansania, stammte, wurde wegen „Rassenschande“ angeklagt und im Konzentrationslager Sachsenhausen ermordet. Im Konzentrationslager Ravensbrück starb kurz vor Kriegsende Martha Ndumbe (1902–1945), die in Prenzlauer Berg geboren wurde und deren Vater aus Duala stammte.
[xii] So argumentiert der Musikwissenschaftler Nepumuk Riva, in: Nepumuk Riva, Du rufst mich noch „einen Sklaven“? Selbstbewusstsein und politischer Protest in den Kameruner Aufnahmen des Berliner Lautarchivs, in: Ders (Hg.), Klangbotschaften aus der Vergangenheit. Forschungen zu Aufnahmen aus dem Berliner Klangarchiv, Aachen 2014, S. 224. Die Aufnahmen befinden sich in: Lautarchiv, Humboldt-Universität zu Berlin, LA 1331, LA 1333, LA 1334, LA 1332.
[xiii] Vgl. Paulette Reed-Anderson, Rewriting the Footnotes. Berlin und die Afrikanische Diaspora, Berlin 2000, S. 57; dies., Menschen, Orte, Themen. Zur Geschichte und Kultur der Afrikanischen Diaspora in Berlin, Berlin 2013, S. 88.
[xiv] Vgl. Schreiben von Dustert an die Gesellschaft für Eingeborenenkunde vom 23.10.1940, in: BArch 1001/6383, S. 423ff. sowie Schreiben von Lindequist an das Oberkommando der Wehrmacht vom 6.11.1940, in: BArch 1001/6383, S. 432ff.
[xv] Vgl. Vermerk vom 21.10.1940, in: BArch 1001/6383, S. 417.
[xvi] Vgl. Schreiben Victor Bells vom 14.07.1941, in: BArch R9361-V/123901; Beschäftigungs-Nachweis Bell, Victor, in: BArch R9361-V/131382.