Die Firma Muratti in Kreuzberg

Im Sommer 1906 eröffnete die B. Muratti Sons & Co. Limited eine Berliner Zweigniederlassung. Zunächst war die Zigarettenfabrik, die Stammsitze in Manchester und London besaß, in der Dorotheenstraße 22, anschließend in der Universitätsstraße 3b ansässig, bevor sie 1912 in den fünfgeschossigen Gewerbehof, den Victoriahof, in der heute in Kreuzberg liegenden Köpenicker Straße 126 zog.[1] In der parallel zur Spree verlaufenden Straße siedelten sich im Zuge der Industrialisierung viele Handelsunternehmen und Fabriken an.[2]

Tabak zählte wie Tee, Kakao oder Kaffee zu den typischen Kolonialwaren. Hersteller von Zigaretten, wie auch anderer Produkte aus kolonialen Kontexten versuchten insbesondere durch die Inszenierung von „Fremdheit“ und „Exotik“ die Konsument:innen auf ihre Marken aufmerksam zu machen und sich auf dem umkämpften Markt durchzusetzen.[3]

Die Tabakpflanze war mit dem Wissen um ihre Verwendung ab dem Ende des 15. Jahrhunderts aus Amerika durch spanische Kolonisator:innen nach Europa gelangt und hatte sich als Rauchgut im 17. Jahrhundert über See-, Kauf und Handelsleute und durch militärische Truppen im Dreißigjährigen Krieg verbreitet. Bis zum Ende des 18. Jahrhunderts verblieb der Tabakanbau in europäischen Kolonien (USA, Brasilien, Karibik) und beruhte fast vollständig auf Sklavenarbeit, die sich global bis heute in ausbeuterischen Arbeitsstrukturen fortsetzt.[4] Im folgenden Jahrhundert dehnte sich der Anbau der Tabakpflanze über die ganz Welt aus.[5] Der größte Teil des in Deutschland konsumierten Tabaks stammte bis ins 20. Jahrhundert aus Übersee – Nordamerika, der Karibik, Java und Sumatra – und war damit eine Kolonialware, deren Handel auf asymmetrischen Beziehungen zwischen rohstoffliefernden einerseits und rohstoffverarbeitenden und konsumierenden Ländern andererseits beruhte: „Der deutsche Markt war auch im 19. und 20. Jahrhundert Teil eines weltweiten kolonialen Handelsnetzes – entweder mittelbar durch Lieferungen über Kolonialmächte wie England, Frankreich, Spanien und Portugal oder unmittelbar im Handel mit den Anbauländern.“[6]

Mit dem Aufkommen der Zigarette und der massiv wachsenden Tabaknachfrage trat durch das Anbaugebiet des sogenannten „Orient“-Tabaks rund um das nordöstliche Mittelmeer und das Schwarze Meer eine weitere Region als Anbaugebiet auf den Plan.[7] Im 19. Jahrhundert hatte man in Europa begonnen, Tabak nicht mehr nur zu kauen, zu schnupfen oder als Zigarre oder Pfeife zu konsumieren, sondern auch in Papier gerollt zu rauchen.[8] Um 1900 entwickelte sich die Zigarette zunehmend zum modernen Massenkonsumgut und zog in die deutsche urbane Alltagskultur ein. Sie wurde zum „Symbol für ein modernes Zeit- und Lebensgefühl“[9] und setzte sich gegenüber traditionellen Rauchwaren durch. 1913 betrug der Zigarettenkonsum im Deutschen Reich rund 13 Milliarden Stück.[10]

Für die deutsche Zigarettenindustrie vor dem Zweiten Weltkrieg und damit auch für die Berliner Zweigniederlassung von B. Muratti Sons & Co. war der zentrale Referenzpunkt das Osmanische Reich, das unter Kaiser Wilhelms II. imperialistischer Kolonialpolitik zunehmend wirtschaftlich und politisch als Ressourcen- und Absatzmarkt durchdrungen wurde,[11] bzw. der von Europa pauschal als „Orient“ bezeichnete Kulturraum: „Zigaretten waren in Deutschland zu dieser Zeit nahezu in jeder Hinsicht und selbstverständlich orientalisch.“[12] Die im Deutschen Reich hergestellten Zigaretten bestanden zu über neunzig Prozent aus sogenanntem „Orienttabak“ und damit aus Varianten der Tabakpflanze, die auf Gebieten der heutigen Staaten Mazedonien, Bulgarien und der Westtürkei in von kleinbäuerlichen Betrieben in arbeitsintensiver Bewirtschaftung weitgehend in Handarbeit angebaut wurden. Dort wurden die Blätter in Ballen gepresst für die Weiterverarbeitung und nach Deutschland und in andere Teile der Welt verschifft. Darüber hinaus finden sich zahlreiche „Orient“-Bezüge auf Schachteln, in Anzeigen und auf Plakaten und Verflechtungen mit dem Osmanischen Reich prägten die Firmengeschichten und Unternehmerbiografien.[13]

Muratti war einer der vielen tabakverarbeitenden Betriebe in Berlin[14] und ist damit Teil der bislang – im Gegensatz z. B. zu Dresden[15] – wenig erforschten Geschichte der frühen Berliner Zigarettenindustrie. Wie viele große Zigarettenfabriken in der deutschen Reichshauptstadt vor dem Ersten Weltkrieg, etwa die Hersteller Josetti, Manoli und Garbáty, ist auch Muratti weitgehend in Vergessenheit geraten.[16] Im Fall von Muratti erschweren der Verlust des Berliner Firmenarchivs und nicht vorhandene Spuren der Stammhäuser in London und Manchester das Erinnern.[17] Neben Dresden und München gehörte Berlin zu einem der Hauptzentren der frühen deutschen Zigarettenindustrie.[18] Im Gegensatz zu benachbarten Ländern wie Italien oder Österreich war der Tabakhandel und die Herstellung von Rauchwaren im Deutschen Reich nicht durch staatliche Monopole kontrolliert.[19]

Die Anfänge des Unternehmens Muratti reichen zurück in das Jahr 1821, als der griechisch-osmanische Tabakhändler Basil Mouratoglou unter dem Namen B. Muratti eine Firma in Konstantinopel (Istanbul) gründete. Sie verfügte über Niederlassungen und Plantagen in fast allen Tabakanbaugebieten der heutigen Türkei und belieferte zahlreiche europäische Regierungen mit Tabak.[20]

Nachdem im Osmanischen Reich die Verarbeitung und der Verkauf des Tabaks 1883 monopolisiert worden war, verlagerte er sein Unternehmen in den 1880er Jahren nach Westeuropa. Muratti gehörte damit zu einer größeren Anzahl von Unternehmen aus dem Osmanischen Reich, die bereits vor dem Ersten Weltkrieg durch Filialen auf verschiedenen europäischen Zigarettenmärkten präsent waren und dort neue Produktions- und Absatzmärkte erschlossen.[21] 1885 eröffnete Demosthenes Basil Muratti (geboren 1853 in Konstantinopel), der Sohn des Firmengründers, eine Zigarettenfabrik in Manchester. 1890 folgte dann die Umwandlung des Betriebs in eine Gesellschaft unter dem Namen B. Muratti, Sons & Company.[22]

Bereits bevor 1906 die Berliner Zweigniederlassung von B. Muratti Sons & Co. unter ihrem Direktor Sophokles Basil Muratti (gestorben am 06.09.1918) eröffnete,[23] war das Unternehmen seit Ende des 19. Jahrhunderts durch eine Vertretung in Berlin präsent.[24]

Die Verarbeitung des Tabaks zu Zigaretten erfolgte bei Muratti vermutlich nicht mehr, wie noch im 19. Jahrhundert üblich, ausschließlich in mühseliger Handarbeit von Tabakdreher:innen, sondern vermehrt maschinell, wodurch die Produktionskapazität gesteigert werden konnte.[25]

Auch wenn keine Belege überliefert sind, die über die Zusammensetzung der Belegschaft und die Arbeitsbedingungen Auskunft geben, ist es wahrscheinlich, dass wie bei allen großen Herstellern von „Orient“-Zigaretten auch in der Kreuzberger Muratti-Fabrik Spezialist:innen aus den Tabakanbaugebieten als Einkäufer:innen und Tabakmischer:innen in der Herstellung beschäftigt waren, die über unentbehrliches Fachwissen in Bezug auf die Rohstoffe und Produktionstechniken verfügten,[26] und darüber hinaus verstärkt Arbeitsmigrant:innen aus dem Gebiet der heutigen Türkei. Seit der Jahrhundertwende lebten sie, bedingt durch die stetig wachsenden deutsch-osmanischen Wirtschaftsbeziehungen, in der Stadt und waren vor allem in der Zigarettenindustrie tätig – 1912 zählte die Zweimillionen-Metropole Berlin 1.320 türkische Bewohner:innen.[27]

Während wohl die Mehrzahl der bei Muratti beschäftigten Arbeiter:innen wie jene anderer Berliner Zigarettenfabriken, etwa Manoli und Garbát in ärmeren Gegenden der Stadt, wie dem dichtbesiedelten Scheunenviertel, unterkamen,[28] wohnte Sophokles Muratti im vornehmen Westen der Stadt.[29]

1914 erfolgte die Umbenennung des Unternehmens in Cigarettenfabrik Muratti GmbH Berlin. Einige Jahre später übernahm der im kleinasiatischen Smyrna (heute Izmir) geborene Kaufmann Annes Mihram Iplicjian (geboren 1889), der seine Schulzeit in Dresden verlebt hatte, dann im Importgeschäft in seiner Heimatstadt und schließlich seit 1916 in Berlin für Muratti tätig gewesen war, als Mitaktionär und alleiniger Vorstand die Geschäftsführung des Unternehmens. 1920 wurde die Firma in eine selbstständige Aktiengesellschaft umgewandelt und agierte nun unabhängig von der Hauptniederlassung in Manchester.[30]

Um zwischen der wachsenden Konkurrenz hervorzustechen – vor dem Ersten Weltkrieg gab es im Kaiserreich rund 9.000 Zigarettenmarken zu kaufen[31] – versuchten die Unternehmen, so auch Muratti, sich durch neue Tabakmischungen und Verfeinerungen, aber in erster Linie durch Werbung auf dem Markt zu behaupten. Die Werbeindustrie, die bereits vor dem Ersten Weltkrieg eine Blüte erlebte, expandierte und professionalisierte sich in der Zwischenkriegszeit und bot der von Beginn an besonders werbeaffinen Zigarettenindustrie Möglichkeiten, den „Wert des Massenprodukts durch Kombination mit dem Außergewöhnlichen zu heben“ [32].

Wie für andere Kolonialwaren, etwa Kaffee und Schokolade, schlug sich auch in der Zigarettenwerbung zu Beginn des 20. Jahrhunderts die Herkunft des Rohstoffs in den Werbebildern nieder: „Vor dem Hintergrund der zeitgenössischen ‚Orient‘-Faszination entstand ein recht geschlossener Kosmos aus stereotypen Bildern und diffusen Verweisen auf die Herkunftsregionen des Tabaks.“[33] Der hier im Kontext der Werbung repräsentierte „Orient“ stand für „Exotik, Geheimnis, Opulenz und Müßiggang“[34].

So trug die Mehrheit der Zigarettenmarken in großer Variation Namen, die etwa ägyptisch, arabisch, türkisch, griechisch, englisch oder französisch klingen konnten.[35] Die bekannteste Zigarettenmarke der Pankower Fabrik Garbáty hieß z. B. Königin von Saba; das Hamburger Unternehmen Sossidi Frères führte Marken wie Fleur d’Orient, Archimedes und Noblesse.[36] In Dresden trugen Marken die Namen Mohamed, Salem Aleikum und Flotte Türken.[37] Auf den oft aufwendig gestalteten Verpackungen, in Anzeigen oder auf Werbeplakaten fanden sich häufig stereotype Repräsentationen des Anderen, als Gegenwelten zum europäischen Eigenen: „Orientalisierende“ Motive, also klischeehafte Darstellungen – etwa der träumerische „Orientale“[38] oder die verführerische „Orientalin“; Szenen aus Tausendundeine Nacht; Bazar- oder Oasenszenen oder Ansichten von „orientalischen“ Städten oder Bauwerken (z. B. Pyramiden, Minarette).[39] Mit ihnen knüpfte die Werbeindustrie an westliche Konstruktionen bzw. Fiktionen des Orients an.[40] Einen Höhepunkt dieser Orient-Manie stellt die 1909 eröffnete – und noch heute erhaltene Zigarettenfabrik – Yenidze in Dresden in Form einer Moschee als „dreidimensionale Reklame“ dar, die zudem auf zahllosen Plakaten und in Anzeigen abgebildet war. Ihre Architektur zielte nicht darauf ab, einem authentischen Nachbau einer Moschee zu entsprechen, sondern stellte die „architektonische Realisierung westlicher Vorstellungsbilder“[41] dar.

Seit dem 18. Jahrhundert schlug sich im höfischen und großbürgerlichen Kontext in Europa in der Musik, Architektur, Malerei und in der Festkultur eine „Turquerie“ – „a European vision of the Ottoman Turkish world that was made manifest in a variety of forms“[42] – nieder. Im 19. Jahrhundert fanden diese europäischen Fantasien vom Luxus des „Orients“ ihre Fortsetzung, wenn auch nun unter neuen politischen und gesellschaftlichen Vorzeichen.[43] Seit Mitte des 19. Jahrhunderts rückten Nordafrika und der Nahe Osten als Kolonien, Handelsplätze und als Reiseziel in den Fokus.[44]

Nach dem Ersten Weltkrieg begannen die Produzenten, „das ästhetische Potential des Produkts [der Zigarette] stärker auszuloten“ und es kam zu einer „Motiv-Pluralisierung“[45] in der Werbung. So wurden Marken trotz ihres „exotischen“ Namens nicht mehr nur mit Orientsujets, sondern auch mit Sportmotiven verbunden.

Auch die Zigarettenfabrik Muratti warb vereinzelt mit orientalistischen Motiven, wie etwa die Werbung für die Marke Neb-Ka[46] zeigt, die das vielfach in der Zigarettenwerbung reproduzierte Bild eines rauchenden „Orientalen“ – als solcher dargestellt durch die charakteristische kegelförmige Kopfbedeckung, den Fes – aufgreift. In erster Linie zielte die Vermarktungsstrategie Murattis aber, ähnlich wie der des Berliner Hersteller Manoli, auf den kosmopolitischen Charakter des Produkts ab – ein weiterer wichtiger Topos in der zeitgenössischen Zigarettenwerbung.[47] Murattis Zigarettensorten trugen Namen mit „mystisch-edlem Beiklang“ – etwa Ariston, Ariston Luxe, Ariston Gold, Gentry, Iplic. Dem Anspruch, Deutschlands vornehmste Zigarette sein zu wollen, entsprach auch das Bildprogramm seiner Reklamen, mit denen sich das Unternehmen im Luxussegment verortete. So zeigten die Reklamen aus den 1920er Jahren Jagd- und Reitszenen, die auf das Freizeitvergnügen der englischen Oberschicht verwiesen (u. a. für Muratti Iplic, Muratti Luxe, Muratti Ariston), und zeigten Muratti-Zigaretten rauchende Männer im Frack oder Damen in edlem Pelz, die u. a. von dem renommierten Werbegrafiker Ludwig Hohlwein (1874 – 1949) stammten, der für eine Vielzahl deutscher Firmen, so auch für weitere Zigarettenhersteller wie Jasmatzi & Söhne, Reemtsma und Sulima Entwürfe fertigte. [48]  [Abb. 1]

Die edlen Dosen aus Blech – noch heute beliebte Sammelobjekte – verliehen der Ware zudem eine besondere Wertigkeit. Sie trugen beispielsweise die goldene Aufschrift „Muratti Ariston – smoked by royality and nobility“, waren recht preisintensiv und unterstrichen das gehobene Image.

In die Kategorie der patriotischen Reklame, die als ästhetische Reaktion auf die zunehmende Nationalisierung der Gesellschaft gelesen werden können, fielen die Zigarettendosen, mit denen Muratti für seine Marken „Kaiser Wilhelm Gold“ und „Mutti“ warb. Das Konterfei von Wilhelm II., das von zwei Soldaten gehalten wird (ähnlich warb auch Manoli für seine Marke „(The) Kaiser“), oder Abbildungen anderer Mitglieder der königlichen Familie wurden auf diesen Dosen abgebildet. [Abb. 2] Für die Firmen war es offenbar ein probates Mittel, um auf die Exzellenz und Exklusivität ihres Produkts hinzuweisen.[49]

Anfang der 1930er Jahre weitete die Firma ihre Produktion massiv aus und versuchte sich nun als „Volkszigarette“ zu etablieren, indem sie eine mehrjährige, strategisch angelegte Werbekampagne startete. Sie gestaltete ihre Packungen um und teilte sie diagonal von links unten nach rechts oben in eine leuchtend rote und eine leuchtend blaue Fläche. In die Farbflächen setzte sie in Gold das Firmenemblem, ein stilisiertes Krönchen und den jeweiligen Namen der Sorte.[50] [Abb. 3] Teil der Strategie waren außerdem experimentierfreudige Werbefilme, die große Aufmerksamkeit erregten, „weil sie kühn, souverän und filmisch sehr überzeugend avantgardistische Mittel im Film mit den neuen Techniken Tonfilm und Farbfilm verbanden“[51]. Wenn auch weniger explizit, fehlen die Verweise auf den „Orient‘“ nicht: Der berühmte dreiminütige Tonfilm „Muratti greift ein“ (1934) des Filmemachers Oskar Fischinger (1900–1967), in dem tricktechnisch animierte Zigaretten ein Ballett tanzen, ist u. a. mit Mozarts wohlbekanntem Rondo „Alla Turca“  unterlegt.

Zu Beginn des Zweiten Weltkriegs 1939 beschlagnahmte die Heeresverwaltung die Produktionsstätte in der Köpenicker Straße, die nun in die ebenfalls in Kreuzberg gelegene Kommandantenstraße 20 verlegt wurde. Drei Jahre später folgte die Stilllegung der Fabrik durch die Nationalsozialisten. Am Ende des Kriegs verfügte die deutsche Zigarettenindustrie kaum noch über Tabakvorräte.[52]

Der Versuch von B. Muratti Sons & Co. die Zigarettenproduktion in der weitgehend unzerstörten Fabrik in der Kommandantenstraße wieder aufzunehmen, scheiterte an der Gegenwehr der amerikanischen Besatzungsmacht. Sie sorgte dafür, dass Muratti keine Rohtabakkontingente erhielt. Nachdem die Berliner Zeitung 1948 öffentlichkeitswirksam darauf hingewiesen hatte, dass die funktionstüchtige Zigarettenfabrik in der Kommandantenstraße im amerikanischen Sektor still liege – „ein Verlust für die Volkswirtschaft, Steuerausfall für Berlin, viele leere Arbeitsplätze“[53] – und die Besitzer vergeblich versucht hätten, über die amerikanischen Besatzungsbehörden an Rohtabak zu kommen, konnte die Zigarettenproduktion noch im selben Jahr wieder aufgenommen werden, wobei anfangs nur einheimische Tabake verfügbar waren. An die Stelle der „Orienttabake“ trat in Deutschland und Europa seit 1945 verstärkt der American Blend-Mischungstypus, der in großen Teilen aus Virginia-Tabak bestand. Dieser stammte in den 1950er größtenteils aus Anbaugebieten in den USA, Italien, Rhodesien (Simbabwe/Sambia), wodurch die Weltkarte des Tabakhandels sich neu ordnete.[54] Schon bald nach dem Krieg avancierte die Muratti AG zum größten tabakverarbeitenden Betrieb Berlins.[55]

1960 übernahm die Brinkmann AG aus Bremen (seit 1992 zur Rothmans-Gruppe London gehörig) –die Aktienmehrheit des Unternehmens von den damaligen griechischen Eigentümern Adrian und Alexander Enfiezioglou. In den folgenden umsatzstarken Jahren rückten Orientzigaretten wie Muratti Privat oder Muratti Cabinet in den Hintergrund. In erster Linie produzierte die Fabrik Zigaretten der Marke Lux Filter, monatlich bis zu 300 Millionen Stück. 1975 schloss das Kreuzberger Werk seine Pforten, nachdem die Verkaufszahlen drastisch zurückgegangen waren.[56]

Beide Fabrikgebäude, in denen Muratti Zigaretten produzierte, sind heute weitgehend in ihrer ursprünglichen Gestalt erhalten und beherbergen Lofts und Büros. In der Kommandantenstraße prangt noch heute in großen Lettern der Name Muratti am Eingang, ohne jedoch darüber hinaus auf die frühere Funktion des Gebäudes hinzuweisen.

provided by FHXB Friedrichshain-Kreuzberg Museum

Abb. 1: Plakat Muratti Abgebildet in: Agde 1998: 92. Quelle: ...

Abb. 2: Blechdose Kaiser Wilhelm Cigaretten, Foto: bpk / Deutsches Historisches Museum / Sebastian Ahlers

Abb. 3: Blechdose für 48 Stück Zigaretten Muratti "ARISTON", Foto: DHM, Sammlung (https://www.deutsche-digitale-bibliothek.de/item/F4UOJXWW4DIRNJ63SOEC7AJVE7P6YNEV?query=Muratti+&thumbnail-filter=on&isThumbnailFiltered=true&rows=20&offset=20&_=1612735787282&viewType=list&firstHit=3LG45ECANGQYLBFISLGUIE5EOETZPHC4&lastHit=lasthit&hitNumber=39)

Abb. 4: Plakat (um 1920) , nach einem Entwurf von E. A. Wolff , Systematik: , Kulturgeschichte / Rauchen / Werbung. Copyright: bpk / Kunstbibliothek, SMB

Abb. 5: BERLIN 03.06.1992 Der denkmalgeschützte Victoriahof ist ein fünfgeschossiger Gewerbehof und liegt in der Köpenicker Straße 126 in Berlin - Mitte. Früher war hier die Zigarettenfabrik Muratti Aktiengesellschaft ansässig. Quelle: ddrbildarchiv.de, Foto: Manfred Uhlenhut

Lisa Hackmann

ORT

Kommandantenstr. 20 (heute 22)

HEUTE

Köpenicker Str. 126

Zitieren des Artikels

Lisa Hackmann: Die Firma Muratti in Kreuzberg. In: Kolonialismus begegnen. Dezentrale Perspektiven auf die Berliner Stadtgeschichte. URL: https://kolonialismus-begegnen.de/geschichten/die-firma-muratti-in-kreuzberg/ (03.03.2025).

Literatur & Quellen

[1] Siehe Abbildung des Viktoriahofs Köpenicker Straße 126 & 126A in: Landesdenkmalamt Berlin, Online. Abrufbar unter: https://www.berlin.de/landesdenkmalamt/denkmale/liste-karte-datenbank/denkmaldatenbank/daobj.php?obj_dok_nr=09011039 (letzter Zugriff: 08.04.2022).

[2] Vgl. Amtsblatt der Königlichen Regierung zu Potsdam und der Stadt Berlin. Potsdam, 1912, S. 468; Lieser, Helga, „Der Mythos der Neuen Welt und das Gold des Orients“, in: Kunstamt Kreuzberg (Hg.), Made in Kreuzberg. Produkte aus Handwerk und Industrie, Berlin 1996, S. 129–136, hier S. 131; Landesdenkmalamt Berlin, Viktoriahof (Obj.-Dok.-Nr.: 09011039). Online abrufbar unter: https://www.berlin.de/landesdenkmalamt/denkmale/liste-karte-datenbank/denkmaldatenbank/daobj.php?obj_dok_nr=09011039 [letzter Zugriff: 24.01.2021].

[3] Vgl. Zeller, Joachim, Bilderschule der Herrenmenschen. Koloniale Reklamesammelbilder, Berlin 2008, S. 221.

[4] Vgl. Zick, Tobias, „Das blutige Geschäft mit den Tabak-Sklaven“, in: Süddeutsche Zeitung. 18.06.2016. Online abrufbar unter: www.sz.de/1.3038404 [letzter Zugriff 11.03.2021].

[5] Vgl. Jacob, Frank / Dworok, Gerrit, „Tabak: Eine globalhistorische Einführung“, in: Jacob, Frank / Steinberg, Swen (Hg.), Tabak und Gesellschaft. Vom braunen Gold zum sozialen Stigma, Baden-Baden 2015, S. 9–32.

[6] Schürmann, Sandra / Alten, Christoph / Hirt, Gerulf u. a., Die Welt in einer Zigarettenschachtel. Transnationale Horizonte eines deutschen Produkts, Marburg 2017, S. 20.

[7] Vgl. ebd.; Nacar, Can, Labor and power in the late Ottoman Empire. Tobacco workers, managers, and the state, 1872–1912, Basingstoke 2019, S. 16–22.

[8] Vgl. Schindelbeck, Dirk / Alten, Christoph / Hirt, Gerulf / Knopf, Stefan / Schürmann, Sandra, Zigaretten-Fronten. Die politischen Kulturen des Rauchens in der Zeit des Ersten Weltkriegs, Marburg 2014, S. 26.

[9] Ebd.

[10] Vgl. Jacobs, Tina / Schürmann, Sandra, „Rauchsignale: Struktureller Wandel und visuelle Strategien auf dem deutschen Zigarettenmarkt im 20. Jahrhundert“, in: WerkstattGeschichte, 45, Essen 2007, S. 33–52, hier S. 36.

[11] Vgl. Fuhrmann, Malte, Der Traum vom deutschen Orient. Zwei deutsche Kolonien im Osmanischen Reich 1851-1918, Frankfurt am Main 2006; Köse, Yavuz (Hg.), Osmanen in Hamburg – eine Beziehungsgeschichte zur Zeit des Ersten Weltkrieges, Hamburg 2016, S. 190.

[12] Rahner, Stefan / Schürmann, Sandra, „Die ‚deutsche Orientzigarette‘“ in: Köse, Osmanen in Hamburg – eine Beziehungsgeschichte zur Zeit des Ersten Weltkrieges, S. 135–154, hier S. 136.

[13] Vgl. ebd., S. 136f.; Schürmann/Alten/Hirt, Die Welt in einer Zigarettenschachtel. Transnationale Horizonte eines deutschen Produkts, S. 20.

[14] Vgl. Berliner Adreßbuch 1906, Unter Benutzung amtlicher Quellen, Berlin 1906. Bd. 1., S. 418–420; Lieser, Der Mythos der Neuen Welt und das Gold des Orients, S. 131.

[15] Vgl. u. a. Bilgic, Leman / Fabian, Maike / Schwetasch, Corinna / Stock, Robert, „Dresdner Orientalismus“, in: Lindner, Rolf / Moser, Johannes (Hg.), Dresden. Ethnografische Erkundungen einer Residenz, Leipzig 2006, S. 207–236; Steinberg, Swen, „Mohammed aus Sachsen. Die Vermarktung von ‚orientalischer Fremdheit‘. Regionalität, Nationalismus und Ideologie in der Dresdner Zigarettenindustrie (1860–1960)“, in: Tabak und Gesellschaft. Vom braunen Gold zum sozialen Stigma, Baden-Baden 2015, S. 183–212.

[16] Vgl. Schindelbeck/Alten/Hirt u. a., Zigaretten-Fronten. Die politischen Kulturen des Rauchens in der Zeit des Ersten Weltkriegs, S. 28f.

[17]Vgl. Agde, Günter, Flimmernde Versprechen. Geschichte des deutschen Werbefilms im Kino seit 1897, Berlin 1998, S. 98.

[18] Vgl. Rahner/Schürmann, Die ‚deutsche Orientzigarette‘, S. 139.

[19] Vgl. Schürmann/Alten/Hirt u. a., Die Welt in einer Zigarettenschachtel. Transnationale Horizonte eines deutschen Produkts, S. 146.

[20] Vgl. Tracy, W. Burnett / Pike, William Thomas, Manchester and Salford at the Close of the 19th Century. Contemporary Biographies, Brighton 1901; Balta, Evangelia, „ History of, and Historiography on, Greek Tabacco “, in: Dies., Peuple et production. Pour une interprétation des sources ottomans, Istanbul 1999, S. 247–257, hier S. 252.

[21] Vgl. Schürmann/Alten/Hirt u. a., Die Welt in einer Zigarettenschachtel. Transnationale Horizonte eines deutschen Produkts, S. 33, 53.

[22] Vgl. Tracy/Pike, Manchester and Salford at the Close of the 19th Century. Contemporary Biographies.

[23] Vgl. The London Gazette, 22.02.1924, S. 1653.

[24] Vgl. u. a. Berliner Adreßbuch 1899, Unter Benutzung amtlicher Quellen, Berlin 1899. Bd. 1, S. 46.

[25] Vgl. Schürmann/Alten/Hirt u. a., Die Welt in einer Zigarettenschachtel. Transnationale Horizonte eines deutschen Produkts, S. 28-31.

[26] Vgl. Steinberg, Mohammed aus Sachsen. Die Vermarktung von ‚orientalischer Fremdheit‘. Regionalität, Nationalismus und Ideologie in der Dresdner Zigarettenindustrie (1860–1960), S. 190.

[27] Vgl. Lieser, Der Mythos der Neuen Welt und das Gold des Orients, S. 131.; Westhafen, Werner von , „Muratti – eine Legende aus Kreuzberg“, in: Kreuzberger Chronik, April 2005. Ausgabe 66. Online abrufbar unter: https://www.kreuzberger-chronik.de/chroniken/2005/april/geschichte.html [letzter Zugriff: 24.01.2021]; Königseder, Angelika / Schulze, Birgit, „Türkische Minderheit in Deutschland“, in: Informationen zur politischen Bildung. Heft 271,13.01.2006. Online abrufbar unter: https://www.bpb.de/izpb/9698/tuerkische-minderheit-in-deutschland?p=all [letzter Zugriff 24.01.2021] .

[28] Vgl. Ingster, Oljean / Rätzke, Rüdiger, „Juden in Berlin. Das Leben im Scheunenviertel. Wo das jüdische Proletariat eine Bleibe fand“, in: Berliner Zeitung, 06.12.1988, S. 12.

[29] Vgl. Berliner Adreßbuch 1907, Unter Benutzung amtlicher Quellen, Berlin 1907. Bd. 1., S. 40; Lieser, Der Mythos der Neuen Welt und das Gold des Orients, S. 131.

[30] Vgl. o. A.: Eintrag zu Iplicjian, in: Reichshandbuch der deutschen Gesellschaft. Das Handbuch der Persönlichkeiten in Wort und Bild. Bd. 1 (A–K), Berlin 1930, S. 398; o. A., „Cigarettenfabrik Muratti A. G. Berlin“, in: Deutsches Wirtschafts-Archiv, Berlin / Düsseldorf 1951, S. 80.

[31] Vgl. Schindelbeck/Alten/Hirt u. a., Die Welt in einer Zigarettenschachtel. Transnationale Horizonte eines deutschen Produkts, S. 13.

[32] Zeller, Bilderschule der Herrenmenschen. Koloniale Reklamesammelbilder, S. 221; vgl. auch Wolter, Stefanie, Die Vermarktung des Fremden. Exotismus und die Anfänge des Massenkonsums, Frankfurt am Main 2005, S. 61–81.

[33] Jacobs/Schürmann, Rauchsignale: Struktureller Wandel und visuelle Strategien auf dem deutschen Zigarettenmarkt im 20. Jahrhundert, S. 41.

[34] Schürmann/Alten/Hirt u. a., Die Welt in einer Zigarettenschachtel. Transnationale Horizonte eines deutschen Produkts, S. 55.

[35] Vgl. Steinberg, Mohammed aus Sachsen. Die Vermarktung von ‚orientalischer Fremdheit‘. Regionalität, Nationalismus und Ideologie in der Dresdner Zigarettenindustrie (1860-1960), S. 197; Schürmann/Alten/Hirt u. a., Die Welt in einer Zigarettenschachtel. Transnationale Horizonte eines deutschen Produkts, S. 35.

[36] Vgl. Rahner / Schürmann, Die ‚deutsche Orientzigarette‘, S. 140.

[37] Vgl. Steinberg, Mohammed aus Sachsen. Die Vermarktung von ‚orientalischer Fremdheit‘. Regionalität, Nationalismus und Ideologie in der Dresdner Zigarettenindustrie (1860–1960), S. 199.

[38] Vgl. Bild: „Orientale“, Plakatentwurf von Louis Oppenheim (1918). Online verfügbar unter: https://sammlung.mak.at/sammlung_online?id=collect-60250. Vgl. Bild ‚orientalische‘ Szene: https://www.europeana.eu/de/item/15514/PI_3928 [letzter Zugriff 09.06.2021].

[39] Vgl. Jacobs/Schürmann, Rauchsignale: Struktureller Wandel und visuelle Strategien auf dem deutschen Zigarettenmarkt im 20. Jahrhundert, S. 41.

[40] Vgl. Bilgic / Fabian / Schwetasch / Stock, Dresdner Orientalismus; Chahine, Rima, Das orientalistische Plakat Westeuropas. 1880–1914, Oldenburg 2013, S. 143–158.

[41] Bilgic / Fabian / Schwetasch / Stock, Dresdner Orientalismus, S. 221.

[42] Williams, Haydn, Turquerie. An eighteenth-century European fantasy, New York 2014, S. 7.

[43] Vgl. Eldem, Edhem, Consuming the Orient. On the occasion of the Exhibition on Consuming the Orient, held at the Ottoman Bank Archive and Research Centre between November 15, 2007 and March 2, 2008, Istanbul 2007.

[44] Vgl. Bilgic / Fabian / Schwetasch / Stock, Dresdner Orientalismus, S. 220.

[45] Jacobs / Schürmann, Rauchsignale: Struktureller Wandel und visuelle Strategien auf dem deutschen Zigarettenmarkt im 20. Jahrhundert, S. 42.

[46]   Vgl. Bild: „Orientale“, siehe Anm. 38.

[47] Vgl. Jacobs/Schürmann, Rauchsignale: Struktureller Wandel und visuelle Strategien auf dem deutschen Zigarettenmarkt im 20. Jahrhundert, S. 42.

[48] Vgl. Agde, Flimmernde Versprechen. Geschichte des deutschen Werbefilms im Kino seit 1897, S. 91.

[49] Vgl. Jacobs/Schürmann, Rauchsignale: Struktureller Wandel und visuelle Strategien auf dem deutschen Zigarettenmarkt im 20. Jahrhundert, S. 42; Giloi, Eva, Monarchy, Myth, and Material Culture in Germany 1750–195, Cambridge 2011, S. 190.

[50] Vgl. Agde, Flimmernde Versprechen. Geschichte des deutschen Werbefilms im Kino seit 1897, S. 91.

[51] Ebd., S. 97.

[52] Vgl. Lieser, Der Mythos der Neuen Welt und das Gold des Orients S. 132.

[53] o. A., „Dornröschenschlaf im USA-Sektor. Eine Zigarettenfabrik, die fabrizieren möchte und nicht darf,“ in: Berliner Zeitung, 13.5.1948, S. 3.

[54] Vgl. Schürmann/Alten/Hirt u. a., Die Welt in einer Zigarettenschachtel. Transnationale Horizonte eines deutschen Produkts.

[55] Vgl. Lieser, Der Mythos der Neuen Welt und das Gold des Orients, S. 132–136; Hengartner, Thomas, „Tabak“, in: ders. / Merki, Christoph Maria (Hg.), Genussmittel. Ein kulturgeschichtliches Handbuch, Frankfurt am Main 1999, S. 169–193, hier S. 180f.; Rahner/Schürmann, Die ‚deutsche Orientzigarette‘, S. 154.

[56] Vgl. Lieser, Der Mythos der Neuen Welt und das Gold des Orients, 136.

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