Die Lucy-Lameck-Straße in Neukölln
Angrenzend an den Park Hasenheide ist seit November 2020 eine Straße nach Lucy Lameck (1934-21.3.1993) benannt.
Lucy Lameck war eine Kämpferin für die tansanische Unabhängigkeit und eine der ersten weiblichen Abgeordneten im tansanischen Regierungskabinett. In Dar es Salaam in Tansania ehrt sie bis heute die „Lucy Lameck Road“.
Bis zur Ehrung im Berliner Stadtraum war es ein langer Weg: Fast 131 Jahre lang war die Straße nach dem Kriegs- und Kolonialverbrecher Hermann von Wissmann (1853-1905) benannt.
Im November 1890 war das damalige Rixdorf die erste Gemeinde in Deutschland, die eine Straße nach Hermann von Wissmann benannte. Im gleichen Jahr war Wissmann – als Reichskommissar für „Deutsch-Ostafrika“ (heute: Tansania, Burundi, Ruanda) – für seine vermeintlichen militärischen „Leistungen“ in der deutschen Kolonie durch Kaiser Wilhelm II. geadelt worden.[1]
Geboren im Jahr 1853 war Hermann von Wissmann schon in den 1880er-Jahren an militärischen Expeditionen in Afrika beteiligt – unter anderem für den belgischen König Leopold II., der ein brutales Kolonialregime im Kongo errichtete.[2] Als die ostafrikanische Küstenbevölkerung 1888 gegen die deutsche Kolonialisierung rebellierte, wurde Wissmann als Reichskommissar mit der Niederschlagung dieses Widerstandes beauftragt.
Sein Vorgehen wurde dabei selbst von einigen zeitgenössischen Beobachtern als äußerst brutal kritisiert. Sie beschrieben, dass Wissmann „alles hängen will“ und widerständischen Dörfern damit gedroht habe „sie von der Karte verschwinden [zu] lassen.“[3] Exekutionen, Entführungen, Vergewaltigungen, Plünderungen und Brandschatzungen waren an der Tagesordnung. Im Jahr 1895 wurde Wissmann für ein Jahr zum Gouverneur der Kolonie „Deutsch-Ostafrika“ ernannt. In dieser Funktion bereitete er unter anderem die Besteuerung der kolonialisierten Menschen vor. Diese Maßnahme war einer der Gründe für den Maji-Maji Krieg, in dem von 1905 bis 1907 erneut Widerstand gegen die deutsche Kolonialisierung geleistet wurde. Die deutsche Seite reagierte auch hier mit brutaler Härte: zwischen 150.000 und 300.000 Afrikaner:innen wurden getötet.[4]
Vor diesem historischen Hintergrund setzten sich schon seit über 15 Jahren Aktivist:innen und Organisationen aus der tansanischen Community für die Umbenennung der Wissmannstraße ein. Unterstützt von der damaligen Werkstatt der Kulturen, die ihren Sitz in der Wissmannstraße hatte, wurde 2005 ein Gedenkmarsch zur Erinnerung an den vor 100 Jahren begonnenen Maji-Maji Krieg in der damaligen Kolonie „Deutsch-Ostafrika“ organisiert. Im Rahmen dieses Gedenkmarsches kam es zur ersten symbolischen Umbenennung der Straße.[5] Auch in den folgenden Jahren wurde der Wunsch nach einer Umbenennung der Straße auf Trauermärschen, Veranstaltungen und Stadtrundgängen immer wieder artikuliert. Statt eines Kolonialverbrechers sollte in Neukölln eine Person mit Bezug zur deutschen Kolonialgeschichte geehrt werden, die sich aktiv gegen Kolonialismus und Rassismus eingesetzt hatte.[6] Auch Bündnis 90/Die Grünen setzten sich gemeinsam mit den postkolonialen und antirassistischen Initiativen für eine Umbenennung ein.
Auf institutioneller Ebene wurde diese erst im Frühjahr 2018 konkret, als die Bezirksverordnetenversammlung Neukölln einen Dialogprozess mit den Anwohner:innen der Wissmannstraße initiierte. Es wurde vorgeschlagen, die Straße nach einer Frau zu benennen, die „in Neukölln gelebt und/oder gewirkt hat oder einen inhaltlichen Bezug zum Thema Antikolonialismus besaß“.[7] Im Sommer des folgenden Jahres begann dann ein Beteiligungsprozess für die Umbenennung. Nach einem öffentlichen Aufruf konnten Neuköllner:innen entsprechende Namensvorschläge einreichen.
Aus den mehreren Hundert Vorschlägen einigte sich eine Jury aus Vertreter:innen der Anwohnerschaft der Wissmannstraße, Historikern und Vertreter:innen aus postkolonialen Initiativen auf drei Namensvorschläge: Nduna Mkomanile, Fasia Jansen und Lucy Lameck.[8]
Nduna Mkomanile spielte eine bedeutende Rolle im antikolonialen Kampf im Maji-Maji Krieg und Fasia Jansen war eine afrodeutsche politische Liedermacherin und Friedensaktivistin.
Lucy Lameck war eine Kämpferin der tansanischen Unabhängigkeit und eine der ersten weiblichen Abgeordneten im tansanischen Parlament. Ihr Leben ist eng mit der Kolonialgeschichte Tansanias verbunden. Als sie 1934 in ärmeren Verhältnissen geboren wurde, war das heutige Tansania Mandatsgebiet des Völkerbundes unter britischer Verwaltung. Nachdem sie die Schule abgeschlossen hatte, machte sie eine Ausbildung zur Krankenschwester. Schon früh erlebte sie hier rassistische Diskriminierung im kolonialen System: „Wir wurden mehr oder weniger wie ein Haufen Bananen behandelt, als ob wir nicht existierten, als ob wir keine Menschen wären.“[9] Sie weigerte sich, in dem kolonialrassistischen System zu arbeiten und wurde früh politisch aktiv, was sie in einem Interview beschreibt: „Es ist also die Ansammlung all dieser Faktoren… Und wenn man die Dinge sieht und beginnt, das System abzulehnen, beginnt man sich zu fragen, ob es eine bessere Welt oder ein besseres Leben gibt.“[10]
Nach einem Studium der Stenografie wurde Lucy Lameck Mitglied der Taganyika African National Union (TANU), die für die tansanische Unabhängigkeit kämpfte, und leitete bald die Frauenvereinigung der Partei. Ab 1957 studierte sie mit einem Stipendium Ökonomie und Politik in Oxford. Nach einem weiteren Semester an einer Universität in den USA kehrte sie 1960 – und damit ein Jahr vor der Unabhängigkeit Tansanias – in ihr Heimatland zurück.
Sie setzte ihre Arbeit bei der TANU fort und wurde vom ersten Präsidenten des unabhängigen Tansanias, Julius Nyerere, für das Parlament nominiert. Damit war sie eine der ersten Abgeordneten im Parlament und die erste Frau des Landes im Regierungskabinett.[11]
In ihrer über 20-jährigen Tätigkeit als Parlamentarierin setzte sie sich insbesondere für die Rechte von Frauen und Mädchen ein und initiierte maßgebliche Gesetzesvorlagen zur Verbesserung ihrer gesellschaftlichen Stellung.[12] Sie betonte beständig die wichtige, aber oftmals marginalisierte Rolle, die tansanische Frauen im Kampf um die Unabhängigkeit des Landes gespielt hatten. Auch wenn der Kampf für Frauenrechte mit der Unabhängigkeit nicht abgeschlossen sei, so habe sich ihre Position stark verbessert: „Vor der Unabhängigkeit: Mit wem konnte ich reden? Wer würde mir zuhören? Ich konnte nicht einmal in der Nähe des Parlaments herumschnüffeln. Ich konnte mich nicht einmal in der Nähe aufhalten, niemand wollte mir zuhören. Jetzt, wo es eine Möglichkeit gibt, gibt es einige Frauen im Parlament, und ich hoffe, es werden immer mehr…“[13]
Lucy Lameck war eine wichtige Vordenkerin der panafrikanischen Idee. Im Jahr 1965 hielt sie ihre bekannte Rede mit dem Titel „Africans Are Not Poor“, in der sie argumentiert, dass Tansania nicht arm sei und betonte vielmehr die Zukunftspotenziale und den tatsächlichen Reichtum des gesamten Kontinents.[14] Was sie sich arm fühlen ließe, sei die Situation der Welt, die sich wissenschaftlich und ökonomisch schnell entwickeln würde.
Lucy Lameck selbst rang damit, eine gesellschaftliche Vision zu entwickeln, die die afrikanischen Realitäten und Werte reflektierte, statt einfach nur „den Westen“ nachzuahmen.[15] Im Vergleich mit anderen Ländern müsste aber immer daran erinnert werden, dass „Die Briten, die Amerikaner und die anderen ihre Länder aus dem Schweiß anderer Menschen aufgebaut haben.“[16]
In Berlin-Neukölln empfahl der Ausschuss für Bildung, Schule und Kultur der Bezirksverordnetenversammlung im November des Jahrs 2020 Lucy Lameck als neue Namensgeberin der Straße anzunehmen. Beschlossen wurde die Umbenennung mit der Stimmenmehrheit der SPD, der Linken und Bündnis90/Die Grünen.[17] Sie wurde am 21. April 2021 durch den Bezirksbürgermeister Martin Hikel, den tansanischen Aktivisten Mnyaka Sururu Mboro von Berlin Postkolonial sowie den Botschafter der Vereinigten Republik Tansania Dr. Abdallah Possi vorgenommen.[18]
Dass heute Lucy Lameck, die als eine „Heldin beschrieben [wird], die den antikolonialen Kampf in Tansania angeführt hat“[19] statt eines Kolonialverbrechers in Neukölln geehrt wird, ist insbesondere dem jahrelangen Engagement von Aktivist:innen und Organisationen – vor allem aus der tansanischen Community – zu verdanken. Kritik an der Umbenennung kam von Seiten der FDP, der CDU und der AfD. Während die FDP Lucy Lameck als neue Namensgeberin kritisierte, lehnten die anderen Parteien und eine Bürger:inneninitiative die Umbenennung komplett ab. Einer der Vorwürfe lautet, dass so die Geschichte ausgelöscht werde.[20] Dabei geht es im Gegenteil darum, die Erinnerung an die deutsche Kolonialgeschichte zu bewahren, dabei aber einen radikalen Perspektivwechsel vorzunehmen: Statt Kolonialverbrecher sollen Menschen im Berliner Stadtraum geehrt werden, die Widerstand gegen den Kolonialismus leisteten.[21]
Danksagung
An dieser Stelle einen herzlichen Dank an Mnyaka Sururu Mboro und Christian Kopp von Berlin Postkolonial e. V. für die Gespräche und Anregungen.
Mirja Memmen
ORT
WissmannstraßeHEUTE
Lucy-Lameck-StraßeZitieren des Artikels
Mirja Memmen: Die Lucy-Lameck-Straße in Neukölln. In: Kolonialismus begegnen. Dezentrale Perspektiven auf die Berliner Stadtgeschichte. URL: https://kolonialismus-begegnen.de/geschichten/die-lucy-lameck-strasse-in-neukoelln/ (26.01.2023).
Literatur & Quellen
[1] Werkstatt der Kulturen: Die Werkstatt der Kulturen fordert Umbenennung der Wissmannstraße, Pressemitteilung (2005), URL: https://www.yumpu.com/de/document/read/29730548/die-werkstatt-der-kulturen-fordert-umbenennung-der-wissmannstraaaye (zuletzt abgerufen 18.12.2021).
[2] Schon auf diesen Expeditionen eignete sich Wissmann koloniales Wissen, Objekte, aber auch menschliche Gebeine an, die teilweise für rassistische Forschungen nach Berlin geschickt wurden (Kopp, Christian: Wissmannstraßen. Zur Person, 2006, URL: https://eineweltstadt.berlin/publikationen/stadtneulesen/wissmannstrasse/ (zuletzt abgerufen 28.12.2021).
[3] Kopp 2006.
[4] Mezger, Sonja: „Si vita yawele chani?“, Presse und Kolonialpolitik: Der Maji-Maji Krieg in ‚Deutsch-Ostafrika‘, URL: https://www.freiburg-postkolonial.de/Seiten/2007-Mezger-Maji.pdf (zuletzt abgerufen 28.12.2021), S. 4.
[5] Binkowski, Rafael: Erinnerung an ein deutsches Massaker, taz (27.8.2005), URL: https://taz.de/!554386/ (zuletzt abgerufen 28.12.2021).
[6] Berlin Postkolonial: 15-year civil society campaign for the renaming of Wissmannstraße in Berlin -Neukölln successful, Pressemitteilung (26.11.2020), URL: https://tanzania-network.de/sites/default/files/PDF_Dateien/Berlin%20Postkolonial%20Pressemitteilung.pdf (zuletzt abgerufen 29.12.2021).
[7] Kopp 2006.
[8]Kopp 2006. / Bezirksamt Neukölln: Bezirksstadträtin Karin Korte freut sich über die Lucy-Lameck-Straße – BVV Neukölln beschloss gestern die Straßenumbenennung der Wissmannstraße, Pressemitteilung (26.11.2020), URL: https://www.berlin.de/ba-neukoelln/aktuelles/pressemitteilungen/2020/pressemitteilung.1022445.php (zuletzt abgerufen 28.12.2021).
[9] Geiger, Susan: Tanu Women. Gender and Culture in the Making of Tanganyikan Nationalism 1955-1965, Social History of Africa, Portsmouth 1997, S. 132. Originalzitat: „We were more or less treated…like a bunch of bananas, as if we don’t exist, as if we were not human.“ In diesem Zitat nimmt sie Bezug auf die rassistische Ungleichbehandlung von europäischen und afrikanischen Krankenschwestern.
[10]Geiger 1997: S. 132. Originalzitat: „So it is the accumulation of all these factors…And once you see things and begin rejecting the system, you begin to wonder, whether there is a better world or a better life…“
[11]Bezirksamt Neukölln 2020.
[12]Bezirksamt Neukölln 2020.
[13]Geiger 1997: S. 200-201. Originalzitat: „Before independence whom could I talk to? Who would listen to me? I would not even sniff around near the House of Parliament. I couldn’t even be near there, nobody would listen to me. Now that there has been an opportunity, there are a few women in Parliament and I hope there will be more and more…“
[14] Lameck, Lucy: Africans Are Not Poor, in: Lihamba, Amandina u.a. (Hrsg.): Women Writing Africa. The Eastern Region, New York 2007, S. 223-228, S. 225.
[15]Lameck 2007: S. 223.
[16]Lameck 2007: S. 226. Originalzitat: „The British, the Americans, and others have built their countries from the sweat of other people.“
[17]Bezirksamt Neukölln 2020.
[18]Bezirksamt Neukölln: Die neue Lucy-Lameck-Straße. Umbenennung und Rahmenprogramm, 2021, URL: https://www.berlin.de/ba-neukoelln/aktuelles/veranstaltungen/die-neue-lucy-lameck-strasse-umbenennung-und-rahmenprogramm-1075274.php (zuletzt abgerufen 05.01.2022).
[19]Zitat von Oswald Jotan Masebo, in: Wagner, Ulrike: Ehre, wem Ehre gebührt, neues Deutschland (22.04.2021), URL: https://www.nd-aktuell.de/artikel/1151125.strassenumbenennung-ehre-wem-ehre-gebuehrt.html (zuletzt abgerufen 28.12.2021)
[20] Haarbach, Madlen: Ausblick auf die BVV: FDP will Umbenennung der Wissmann– in Lucy-Lameck-Straße noch stoppen, Tagesspiegel (24.03.2021), URL: https://leute.tagesspiegel.de/neukoelln/macher/2021/03/24/164496/ausblick-auf-die-bvv-fdp-will-umbenennung-der-wissmann-in-lucy-lameck-strasse-noch-stoppen/ (zuletzt abgerufen 3.01.2022).
[21] Iken, Katja: Straßenumbenennung in Berlin. „Wir löschen die Geschichte nicht aus, wir machen sie erst sichtbar“, Spiegel (23.04.2021), URL: https://www.spiegel.de/geschichte/umbenennung-der-wissmannstrasse-in-berlin-wir-machen-die-geschichte-erst-sichtbar-a-648ebb2b-a424-458a-a56d-adcd4ac8a71c (zuletzt abgerufen 27.12.2021).
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