Die Solidaritätsstation „Jacob Morenga“
Anfang Juli 1978 kamen 20 schwer verletzte Namibier*innen mit einer Interflug-Maschine aus Angola nach Ost-Berlin und wurden umgehend ins Städtische Klinikum Berlin-Buch gebracht. [i] Fast alle waren wenige Wochen zuvor, am 4. Mai 1978, bei dem Überfall südafrikanischer Soldaten auf ein Flüchtlingscamp bei Cassinga in Angola verwundet worden.[ii]
Das „Erbe“ des Deutschen Kolonialismus in Namibia
Ende der 1970er Jahre gab es noch keinen unabhängigen Staat Namibia. Die Ursachen hierfür lagen in der Geschichte des Landes und in der Kolonialpolitik des Deutschen Kaiserreichs. Das heutige Namibia wurde 1884 als „Deutsch Südwestafrika“ zu einer deutschen Kolonie erklärt. Landkonflikte und diskriminierende Politik der Kolonialverwaltung führten zu einem verheerenden Krieg zwischen den namibischen Bevölkerungsgruppen der Herero und Nama einerseits und den deutschen Kolonialtruppen andererseits. Die Kriegsführung der Deutschen war brutal. Bei der Niederschlagung der Aufstände begingen sie zwischen 1904 und 1908 einen Völkermord an den Herero und Nama.
Im Ergebnis des verlorenen Ersten Weltkriegs musste Deutschland sämtliche Kolonien abgeben. Die Verwaltung Namibias ging an Südafrika über. Fortan galten auch dort die rassistischen Gesetze des südafrikanischen Apartheidregimes. Im Laufe der 1960er-Jahre setzten sich die Vereinten Nationen (UNO) für eine Unabhängigkeit Namibias von Südafrika ein. Im Land selbst gründeten sich Unabhängigkeits- und Anti-Apartheid-Bewegungen, u. a. die South West Africa People’s Organisation (SWAPO) unter der Führung von Sam Nujoma. Seit 1966 agierte die SWAPO auch militärisch gegen die Mandatsmacht Südafrika.[iii]
Die Außenpolitik der frühen DDR zielte auf die Aufhebung ihrer internationalen Isolierung und die völkerrechtliche Anerkennung ihres Staates. Dafür bemühte sich die DDR auch um Kontakte zu vielen nach Unabhängigkeit strebenden Staaten Afrikas. Sie entwickelte eine Afrikapolitik unter der Prämisse „Afrika den Afrikanern“ und strebte dabei eine ökonomische, technische und wissenschaftliche Zusammenarbeit an. Ihre Politik sollte sich grundsätzlich von der „bürgerlichen Entwicklungshilfe“ des Westens unterscheiden.[iv]
Seit den 1960er-Jahren unterhielt die DDR einen immer enger werdenden Austausch mit der marxistisch orientierten SWAPO. So wurden etwa Hilfsgüter und militärisches Material nach Namibia geschickt, es gab medizinische Hilfen und Ausbildungsprogramme für Menschen aus Namibia in der DDR. Nachdem DDR und Bundesrepublik 1973 beide in die UNO aufgenommen worden waren, agierte die DDR als konsequente Unterstützerin aller Anliegen der SWAPO bei den Vereinten Nationen.[v]
Die Solidaritätsstation
Mit der Ankunft der 20 Menschen, die im Flüchtlingscamp bei Cassinga verwundet worden waren, begann in Berlin Buch die circa 13-jährige Geschichte der Solidaritätsstation. Bei den ersten Patient*innen handelte es sich um neun Frauen, eine davon war schwanger, um ein elfjähriges Mädchen und um zehn junge Männer. Die meisten Patient*innen hatten komplizierte Schussverletzungen. Einigen Patient*innen mussten Arme oder Beine amputiert werden; bei einigen waren Nachoperationen nötig. Hinzu kam die Behandlung verschiedener Infektionskrankheiten.[vi] „Der Anblick dieser Patientengruppe war erschütternd“, erinnerte sich der damalige Oberarzt der Station, Dr. Christian Zippel.[vii]
Medizinisch besonders kritisch waren die Verletzungen der schwangeren Patientin Clementine Aukongo. Sie war erst 16 Jahre alt und hatte eine Ausbildung zur Krankenschwester begonnen. Auf der Flucht vor den südafrikanischen Soldaten wurde sie angeschossen. Den Angriff, ihre Verwundung und ihre Rettung schildert dreißig Jahre später ihre Tochter Stefanie-Lahya Aukongo in ihrem Buch „Kalungas Kind“.[viii]
Hellao Jambeulu Hellao war 30 Jahre alt, als er nach dem Angriff auf Cassinga auf die Solidaritätsstation kam. Er hatte Familienangehörige verloren und litt unter einer Schussfraktur des linken Oberarms. Er war in Namibia evangelischer Pfarrer gewesen, sprach Englisch und Deutsch und half bei der Verständigung mit den anderen Patient*innen. Außerdem erteilte er im Krankenhaus anderen Patient*innen Unterricht, denn einige von ihnen waren noch sehr jung und hatten durch Flucht und Krieg keine geregelte Schulbildung erhalten. Nach seiner Genesung studierte Hellao an der Karl-Marx-Universität Leipzig Internationales Recht. Nach seiner Rückkehr nach Angola Mitte der 1980er-Jahre wurde er von der SWAPO festgenommen, weil er durch einen anderen Studenten als südafrikanischer Spion denunziert worden war. Mehrere Jahre verbrachte er in Haft, wurde gefoltert und musste lange um seine Rehabilitierung kämpfen. Anschließend arbeitete er in der Nationalbank von Namibia. Er verstarb Anfang der 2000er Jahre.[ix]
Nach den ersten 20 Patient*innen aus Namibia wurden in den folgenden Jahren zwischen 800 und 1.000 Menschen aus 33 bis 40 Ländern in Berlin-Buch medizinisch behandelt: Namibier*innen, Mitglieder des African National Congress (ANC) und der Palestine Liberation Organization (PLO) sowie Menschen u. a. aus Angola, Äthiopien, Zypern, Irak, Afghanistan, Jordanien, Vietnam, Venezuela und Nicaragua.[x]
Chefarzt der 2. Geriatrischen Klinik war bis 1981 Dr. Simon Spyra. Für die Behandlung der ausländischen Patient*innen engagierte sich vor allem Dr. Christian Zippel, der zunächst Oberarzt war, seit 1981 dann Chefarzt und Nachfolger Spyras. Wichtig war insbesondere der Stationsarzt Dr. Erich Kwiatkowski, ein erfahrener Facharzt für Chirurgie, der sich auch mit Orthopädie auskannte. Hinzu kamen Pfleger*innen, Physiotherapeut*innen und Ergotherapeut*innen, die damals Arbeitstherapeuten genannt wurden.[xi]
Die Versorgung der komplizierten Kampfverletzungen war eine Herausforderung. Es mussten Prothesen individuell angefertigt werden, die auch den klimatischen Bedingungen der Heimatländer standhielten. Für komplexe Wunden und Verletzungen mussten medizinische Lösungen gefunden werden, mit denen Patient*innen leben konnten, die später in Bürgerkriegsgebiete ohne funktionierende medizinische Infrastruktur zurückkehrten. Herausfordernd war auch das Zusammenleben der kranken, verletzten und zum Teil traumatisierten Patient*innen. Sie kamen aus unterschiedlichen Kulturen, sprachen verschiedene Sprachen und waren durch unterschiedliche soziale, religiöse und politische Einflüsse geprägt. Das medizinische Personal der Solidaritätsstation versuchte diesen Umständen mit Pragmatismus und Toleranz zu begegnen. Trotz der Herausforderungen schilderten die Mitarbeiter*innen den Alltag auf der Station als herzlich und freundschaftlich. Ihre eigene Arbeit empfanden sie als erfüllend, denn sie hatten das Gefühl, wirklich gebraucht zu werden. Erich Kwiatkowski wurde von Patient*innen aus Dankbarkeit und wegen seines Bartes als „Dr. Jesus“ bezeichnet.[xii]
Die „Internationale Solidarität“ in der DDR
Die Finanzierung der Behandlung der meisten Patient*innen der Solidaritätsstation übernahm das Solidaritätskomitee der DDR. Das Solidaritätskomitee unterstand der Abteilung Internationale Verbindungen des Sekretariats des Zentralkomitees der SED. Seine Aufgabe war die Organisation verschiedener internationaler Solidaritätsprojekte der DDR. Hierfür sammelte das Komitee Spendengelder und koordinierte deren Verwendung. Wichtigster Spendengeber war der Freie Deutsche Gewerkschaftsbund (FDGB) als größte Massenorganisation der DDR. Zu den Aufgaben des Solidaritätskomitees gehörte es ebenso, Kontakte zu politischen Bewegungen wie ANC, PLO oder SWAPO zu pflegen und deren Vertretungen in Ost-Berlin zu finanzieren. [xiii]
Die Solidaritätsstation wurde von der Staatssicherheit überwacht. Überliefert sind jedoch nur wenige Akten, die die genaue Tätigkeit der Stasi im Krankenhaus Berlin-Buch belegen. Aus ihnen wird deutlich, dass die Stasi befürchtete, die internationalen Patient*innen könnten die Aufmerksamkeit westlicher Geheimdienste auf sich ziehen. Außerdem interessierte sich die Stasi für Kontakte von Kirchengruppen zu Patient*innen.[xiv]
Solange die Patient*innen hilfsbedürftig waren, war ihnen die staatlich organisierte solidarische Unterstützung sicher. Sie blieben jedoch „Ausländer“. Ihr Aufenthalt wurde als vorübergehend angesehen und eine Integration in die DDR-Gesellschaft wurde nicht angestrebt. Vor allem nach dem Mauerfall schlugen vielen Patient*innen, die noch in Ost-Berlin lebten, rassistische Ressentiments oder offener Hass entgegen.[xv]
Johanna Niedbalski
ORT
Zepernicker Straße 2HEUTE
Zitieren des Artikels
Johanna Niedbalski: Die Solidaritätsstation „Jacob Morenga“. In: Kolonialismus begegnen. Dezentrale Perspektiven auf die Berliner Stadtgeschichte. URL: https://kolonialismus-begegnen.de/geschichten/die-solidaritaetsstation-jacob-morenga/ (25.10.2024).
Literatur & Quellen
[i] Dies ist die stark gekürzte Fassung eines längeren Aufsatzes, der erschienen ist in: Bernt Roder (Hg.), (De)Koloniale Spuren in Pankow, Berlin 2004, S. 110-126. Dieser gedruckte Aufsatz enthält weitere biografische Details von Patientinnen und Patienten, Abbildungen, historische Einordnungen und ausführliche Literatur- und Quellenangaben.
[ii] Vgl. etwa Christian Zippel, Die Solidaritätsstation in Buch, in: file:///Users/jn/Downloads/Solidarit%C3%A4tsstation%20in%20Buch.pdf (abgerufen am 15.12.2023).
[iii] Vgl. Etwa E[mmanuel] Ike Udogu, Liberating Namibia: The Long Diplomatic Struggle Between the United Nations and South Africa, Jefferson u. a. 2012, S. 36ff, 60ff.
[iv] Vgl. Hans-Joachim Döring, „Es geht um unsere Existenz“. Die Politik der DDR gegenüber der Dritten Welt am Beispiel von Mosambik und Äthiopien, Berlin 2000, S. 41.
[v] Vgl. Engel, Schleicher, Die beiden deutschen Staaten, S. 89ff, 301ff; Helmut Bley, Hans-Georg Schleicher, Deutsch-deutsch-namibische Beziehungen von 1960 bis 1990, in: Larissa Förster, Dag Henrichsen, Michael Bollig (Hg.), Namibia – Deutschland: eine geteilte Geschichte. Widerstand – Gewalt – Erinnerung. Publikation zur gleichnamigen Ausstellung, Köln, Wolfratshausen 2004, S. 274ff.
[vi] Vgl. Medizinischer Bericht über die 20 Patienten aus Namibia (SWAPO), die sich zur Zeit zur Behandlung in der Deut. Dem. Republik befinden (handschriftlich), in: BArch SGY 46/2.
[vii] Christian Zippel, Die medizinische Hilfe, in: Kenna (Hg.), Die „DDR-Kinder“, S. 67.
[viii] Stefanie-Lahya Aukongo, Kalungas Kind. Wie die DDR mein Leben rettete, Reinbek 2009, S. 21.
[ix] Vgl. Interview mit Renate Wendrich und Dr. Erich Kwiatkowski am 08.11.2022; Hellao Jambeulu Hellao, Wir sprechen die gleiche Sprache, in: Pulsschlag (1979) Heft 3; Hellao Jambeulu Hellao, Unsere ganze Sympathie dem vietnamesischen Volk, in: Pulsschlag (1979) Heft 6; Christian Zippel, Wiedersehen in Namibia, in: Wochenpost (1990) Heft 13; Interview mit Dr. Christian Zippel am 12.09.2022.
[x] Genaue Zahlen können nicht mehr rekonstruiert werden, denn die Krankenhausakten seien bei den Umstrukturierungen in der Wendezeit „verloren“ gegangen, vgl. Zippel, Die Solidaritätsstation, S. 3.
[xi] Vgl. Interview mit Dr. Christian Zippel, Klinikum Berlin-Buch (Auszug), 13.03.1996, in: BArch SGY 46/1; Schleicher, Schleicher, Krankenpflege.
[xii] Vgl. hierzu etwa Aukongo, Kalungas Kind, S. 20; Interview mit Dr. Christian Zippel, Klinikum Berlin-Buch (Auszug), S. 3; Interview mit Renate Wendrich und Dr. Erich Kwiatkowski am 08.11.2022; Schleicher, Schleicher, Krankenpflege; Interview mit Dr. Erich Kwiatkowski, 18.02.1996.
[xiii] Vgl. André Albrecht, Das institutionelle Erbe der DDR-Entwicklungspolitik. Was vom Solidaritätskomitee und den internationalen Bildungsstätten blieb, in: Thomas Kunze, Thomas Vogel (Hg.), Ostalgie international. Erinnerungen an die DDR von Nicaragua bis Vietnam, Berlin 2010, S. 166ff; Döring, „Es geht“, S. 206ff; Detlev Brunner, DDR „transnational“. Die „internationale Solidarität“ der DDR, in: Alexander Gallus, Axel Schildt, Detlef Siegfried (Hg.), Deutsche Zeitgeschichte – transnational, Göttingen 2015, S. 64–80; Solidaritätskomitee, in: FDGB-Lexikon. Funktion, Struktur, Kader und Entwicklung einer Massenorganisation der SED (1945–1990), hrsg. von Dieter Dowe, Karlheinz Kuba, Manfred Wilke, bearb. v. Michael Kubina, Berlin 2009: http://library.fes.de/FDGB-Lexikon/ (abgerufen am 12.01.2024).
[xiv] Vgl. BArch, MfS, BV Bln, AIM, 5630/91, Bd. 1; BArch, MfS, BV Bln, AIM, 5630/91, Bd. 2; BArch, MfS, HA II/6, Nr. 1170.
[xv] Vgl. etwa die Erzählung Stefanie-Lahya Aukongos über die 1990er Jahre in Prenzlauer Berg. Vgl. auch Interview mit Renate Wendrich und Dr. Erich Kwiatkowski am 08.11.2022. Im derzeit noch laufenden Projekt Ostdeutsche Migrationsgesellschaft selbst erzählen werden Geschichten von Migrant*innen in Ostdeutschland vor und nach der Wende gesammelt und dokumentiert. Vgl. http://www.damost.de/projekte/migost/.