Friedenauer Reichsentschädigungsamt
Nach der Niederlage Deutschlands im Ersten Weltkrieg und dem damit einhergehenden Ende des deutschen Kolonialreichs wurde ein großer Teil der Deutschen aus den ehemaligen Kolonien ausgewiesen. In dem noch heute teilweise erhaltenen Gebäude der vormaligen Goerz-Fabrik in der Rheinstraße 45/46 befand sich ab 1927 das Reichsentschädigungsamt. Bis ins kleinste Detail konnten Verluste in einem insgesamt achtseitigen Fragebogen des Amtes eingetragen und Entschädigungszahlungen verlangt werden. Nachkriegsinflation, Reparationszahlungen und wirtschaftliche Schwierigkeiten verhinderten jedoch eine rasche Abwicklung der Zahlungen.
Viele der nach Deutschland zurückgekehrten sogenannten ‚Kolonialdeutschen‘ mussten oftmals zehn Jahre auf eine Regelung ihrer Ansprüche warten. Die langwierige und unzureichende Bearbeitung enttäuschte viele Antragsteller_innen. Die eingebüßte Machtstellung sowie ihre finanziellen Einbußen und verlorenen Besitztümer lasteten viele Deutsche der demokratischen Regierung der Weimarer Republik an.
Im März 1928 betrat der früher in Deutsch-Ostafrika (heute Tansania) tätige Viehzüchter Heinrich Langkopp das Reichsentschädigungsamt und forderte mithilfe einer Pistole und einer selbstgebastelten Bombe die Auszahlung seiner Entschädigung. Den Mitarbeitern gelang nach vier Stunden die Entwaffnung Langkopps. Es kam zu einem Prozess im Schöneberger Amtsgericht in der Grunewaldstraße, dessen Urteil im Falle des versuchten Attentats milde ausfiel: fünf Monate Gefängnis und 50 Mark Geldstrafe. Tatsächlich hatte Langkopps Tat die Zustimmung zahlreicher Vertreter_innen kolonialer Organisationen. In seinem 1929 veröffentlichten Buch „22 Jahre im Innern Afrikas. Was ich erstrebte, erlebte, erlitt“ beschrieb er neben nostalgischen Erinnerungen an seine Zeit in Deutsch-Ostafrika auch seinen Prozess. Selbstrechtfertigend schrieb er: „Man faßte einen von mir geplanten ‚Schreckschuß‘ als Bombenattentat auf. Es folgte dann ein riesenhafter Prozeß, bei dem sich aber die Sympathien aller auf meine Seite schlugen.“ Die von Langkopp erhoffte Entschädigungszahlung blieb allerdings aus.
Dabei waren Prozesse für Langkopp nichts Neues. In der Kolonie Deutsch-Ostafrika stand der Farmer bis 1914 mehrmals vor Gericht. Immer wieder zeigte sich hier die rassistische Rechtsprechung: Die wiederholte Misshandlung afrikanischer Untergebener wurde kaum, die Beleidigung deutscher Beamter hingegen schwer bestraft. Ein doppeltes Maß und Muster, das sich auch bei den Entschädigungszahlungen zeigte. Denn die Möglichkeit, Entschädigungszahlungen zu beantragen, bestand für die einheimische Bevölkerung in den Kolonien zu keinem Zeitpunkt, obwohl viele zuvor in großer Zahl ihres Landes, ihrer Besitztümer und ihrer Freiheit beraubt worden waren.
Eine Auseinandersetzung über diese weitverbreitete Enteignung der einheimischen Bevölkerung fand bis in die jüngste Vergangenheit kaum statt. Erst 2017 brachte eine aktuelle Sammelklage von Vertreter_innen der Herero gegen die Bundesrepublik das Thema verstärkt in die Öffentlichkeit. Bei dem Gerichtsverfahren, das in den USA geführt wurde, ging es um die Enteignungen und den Völkermord an den Herero. Obwohl die Klage 2019 abgewiesen wurde, begannen weitere Verhandlungen nun direkt zwischen Namibia und Deutschland. Im Mai 2021 verkündete das Auswärtige Amt eine Einigung, die in der Auszahlung von 1,1 Milliarden Euro für ein Wiederaufbau- und Entwicklungsprogramm bestehe. Das Wort „Entschädigung“ wurde dabei jedoch weiterhin bewusst vermieden. Für die anderen ehemaligen deutschen Kolonien standen solche Diskussionen lange aus. 2020 forderte Abdallah Possi, tansanischer Botschafter in Berlin, „Verhandlungen über Wiedergutmachungen“ für Verbrechen, die während der deutschen Kolonialzeit in Ostafrika begangen wurden. Im November 2023 bat der Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier bei seinem Besuch in Tansania die Nachkommen der im Maji-Maji-Krieg Verletzten und Getöteten um Verzeihung. Viele Tansanier_innen hoffen, dass sich daran auch Verhandlungen über Entschädigungen anschließen.
- Dieser Text ist die überarbeitete Fassung eines Kapitels aus der Ausstellung „Forschungswerkstatt: Kolonialgeschichte in Tempelhof und Schöneberg“, die das Schöneberg Museum vom 19.5. bis 29.10.2017 zeigte.
Stefan Zollhauser
Johanna Strunge
ORT
ReichsentschädigungsamtHEUTE
Rheinstraße 45/46Zitieren des Artikels
Stefan Zollhauser Johanna Strunge Friedenauer Reichsentschädigungsamt. In: Kolonialismus begegnen. Dezentrale Perspektiven auf die Berliner Stadtgeschichte. URL: https://kolonialismus-begegnen.de/geschichten/friedenauer-reichsentschaedigungsamt/ (12.06.2024).
Literatur & Quellen
Norbert Aas/Harald Sippel: Koloniale Konflikte im Alltag. Eine rechtshistorische Untersuchung der Auseinandersetzungen des Siedlers Heinrich Karl Langkopp mit der Kolonialverwaltung in Deutsch-Afrika und dem Reichsentschädigungsamt in Berlin (1910-1929), Bayreuth 19972.
Dirk Hainbuch: Das Reichsministerium für Wiederaufbau 1919 bis 1924. Die Abwicklung des Ersten Weltkrieges. Reparationen, Kriegsschäden-Beseitigung, Opferentschädigung und der Wiederaufbau der deutschen Handelsflotte, Frankfurt (Main) 2016.
Zum Abkommen zwischen Deutschland und Namibia: https://www.bpb.de/kurz-knapp/hintergrund-aktuell/335257/voelkermord-an-herero-und-nama-abkommen-zwischen-deutschland-und-namibia/ (letzter Zugriff 20.05.2024)
Zur Diskussion um Steinmeiers Entschuldigung und mögliche Entschädigungen für Tansania: https://www.dw.com/de/tansania-steinmeiers-entschuldigung-ein-erster-schritt/a-67298090 (letzter Zugriff 20.05.2024); https://www.dw.com/de/kolonialverbrechen-deutschland-und-tansania-wollen-aufkl%C3%A4ren/a-65068986 (letzter Zugriff 20.05.2024); https://taz.de/Deutsche-Kolonialverbrechen-in-Tansania/!5969664/ (letzter Zugriff 20.05.2024)