Gustav Adolph Schön: Von den Westindischen Inseln nach Weißensee
Im Jahr 1872 kaufte Gustav Adolph Schön (1834–1889) aus Hamburg das Rittergut Weißensee für 700.000 Taler.[i] Bald nach dem Kauf wurde das Gebiet parzelliert und weiterveräußert.[ii] Gustav Adolph Schön hat nie in Weißensee gelebt. Die Grundstücksgeschäfte wickelte die „Weißenseer Aktiengesellschaft“ ab, deren Aufsichtsratsvorsitzender zunächst Gustav Adolph Schön war, später gab er den Vorsitz an seinen Bruder Anton Matthias Schön (1837–1922) ab. Für die Entwicklung der Gemeinde Weißensee waren der Verkauf des Ritterguts und die folgende Parzellierung jedoch von großer Bedeutung. Woher stammte das Geld für den Erwerb des Ritterguts?
Die Kaufmanns- und Reederdynastie Schön wurde von Samuel Sigismund Schön (1772–1819) begründete.[iii] Einer seiner Söhne, August Joseph Schön (1802–1870), verließ im Alter von 20 Jahren Hamburg in Richtung Karibik. In der dänischen Kolonie St. Thomas machte er Karriere. Er war zunächst Handelsgehilfe, dann Teilhaber der Firma Overmann & Co., die dann Overmann & Schön hieß.[iv] Das erfolgreiche Unternehmen expandierte und gründete weitere Niederlassungen in Puerto Rico und Venezuela.
August Joseph Schön lebte 13 Jahre auf St. Thomas. Er war mit der dort geborenen Nicoline Elisabeth Gravenhorst Löwenstierne (1807–1883) verheiratet. Sie hatten sieben Kinder, unter anderem Gustav Adolph Schön und Anton Matthias Schön. 1835 kehrte die Familie nach Hamburg zurück.[v] August Joseph Schön gilt als der bedeutendste Westindienreeder der Segelschiffzeit.
Dänisch-Westindien wurden 1493 von Christoph Kolumbus für die spanische Krone in Besitz genommen, jedoch nicht besiedelt. Die Ankunft weiterer Europäer im 16. Jahrhundert führte schließlich zur Auslöschung der indigenen Bevölkerung – durch Feldzüge und eingeschleppte Krankheiten. 1666 wurde St. Thomas dänisch. Zu Dänemark gehörte damals noch der größte Teil Schleswig-Holsteins, beispielsweise Flensburg und der heutige Hamburger Stadtteil Altona. Die geschäftlichen Verbindungen Hamburger Kaufleute mit Dänemark waren entsprechend eng. Rohrzucker wurde ein wichtiges Exportgut für die Rumproduktion in Flensburg.[vi] Die dänischen Kolonien in der Karibik waren auf Siedler anderer Nationalitäten angewiesen, zu wenige Dänen zeigten Interesse an den Inseln. Der Hafen in der Hauptstadt von St. Thomas, Charlotte Amalie, war das Handelszentrum – auch für den Handel mit Versklavten.
Versklavtenhandel und „Haussklaven“
Bereits im 15. Jahrhundert hatte der menschenverachtende Handel mit versklavten Menschen aus Afrika begonnen. Eines der Ziele waren die Westindischen Inseln. Der berüchtigte „Dreieckshandel“ zwischen europäischen Häfen, Afrika und Amerika (sowohl Süd- als auch Mittel- und Nordamerika) weitete sich in den folgenden Jahren massiv aus.[vii] Dänemark war von 1671 bis 1802 am Handel mit Versklavten beteiligt. In Westafrika wurden die Menschen zunächst gefangen gehalten und dann – eingepfercht auf Segelschiffen – unter unsagbar brutalen Bedingungen in die Karibik transportiert.
Das Leben der versklavten Männer und Frauen auf den Zuckerrohrplantagen der Insel St. Croix war geprägt von harter, endloser Arbeit ohne Lohn, von körperlicher und sexueller Ausbeutung jeder Art sowie von drakonischen Strafen. Der Historiker Gerard Emanuel aus St. Thomas berichtet, dass die afrikanischen Versklavten „like animals“ behandelt wurden.[viii] Ihre Arbeit trug zum immensen Reichtum der Plantagenbesitzer, der Geschäftsleute und nicht zuletzt des dänischen Staates bei.
In St. Thomas arbeiteten versklavte Menschen häufiger im urbanen Raum, im Gegensatz zur Nachbarinsel St. Croix, wo sie vorrangig auf Plantagen ausgebeutet wurden.[ix] In zeitgenössischen dänischen amtlichen Quellen und Zeitungen in Dänisch-Westindien tauchen Versklavte nicht als gleichberechtigte Individuen auf, sondern als „Ware“ oder „Haussklaven“.[x]
Die Firma A. J. Schön & Co. war nach heutigem Recherchestand mit ihren mehr als 20 Segelschiffen nicht am Sklavenhandel beteiligt.[xi] Die Schiffe transportierten Waren von Europa auf die Westindischen Inseln, darunter u. a. Lebensmittel, Alkoholika, Kurzwaren, Fabrikwaren, Ziegelsteine, Tabak oder Steinkohle. Auf dem Rückweg brachten sie landestypische Waren aus der Karibik wie Kaffee, Rinderhörner, Rinderfelle, Schokolade, Früchte und Tropenholz nach Europa.[xii]
Vor Ort lebte die Familie Schön jedoch in einer Sklavenhaltergesellschaft, die von Versklavten maßgeblich profitierte – auf den Plantagen und in ihren eigenen Häusern. Im Jahr 1833 besaß August Joseph Schön privat sechs Versklavte.[xiii] Wie die Familie Schön die Versklavten in ihrem Haushalt behandelte, wissen wir nicht. Wo und wie waren sie untergebracht? Waren sie Opfer körperlicher Gewalt? Welche Arbeiten mussten sie zwangsweise verrichten? Auf jeden Fall konnten sie nicht über ihr Leben selbst bestimmen.
Ein Geschäftspartner von August Joseph Schön war Christian Friedrich Overmann, der unter anderem eine nach seiner Frau benannte Plantage in Puerto Rico unterhielt, auf der mehr als 200 Versklavte Zwangsarbeit leisten mussten.[xiv] Außerdem war seine Firma in den Sklavenhandel verwickelt.[xv] Festzuhalten ist, dass die Firma A. J. Schön & Co. nach heutigem Wissen keine Plantagen besaß und auch nicht in den Sklavenhandel verwickelt war. Jedoch hatte August Joseph Schön zweifellos Kenntnis davon und vermutlich mindestens indirekt davon profitierte. Dass August Joseph Schön „Haussklaven“ für sich arbeiten ließ, gilt als gesichert.[xvi]
Die Familie von August Joseph Schön kehrte 1835 in Begleitung von zwei schwarzen Dienstmädchen, Johanna Bockmann und Lydia Petersen, nach Hamburg zurück. Letztere ging später nach St. Thomas zurück, wo sie 1885 starb. Johanna Bockmann war bereits in St. Thomas eine „freie Mulattin“, während der Status von Lydia Petersen unklar ist. Auf jeden Fall handelte es sich um kolonial geprägte Beschäftigungsverhältnisse, die im Grunde das ersetzten, was zuvor häusliche Versklavte erledigten.[xvii]
Obwohl Dänemark 1803 den transatlantischen Handel mit Versklavten verboten hatte und 1835 der anglo-spanische Vertrag zu dessen Abschaffung geschlossen wurde, blieb Charlotte Amalie auf St. Thomas weiterhin ein Hafen für den nun illegalen Sklavenhandel.[xviii]
Verbindungen zur Familie Godeffroy in Hamburg
Die deutschen und dänischen Familien in St. Thomas pflegten untereinander einen regen gesellschaftlichen Umgang. Auch nach der Rückkehr der Familie Schön aus St. Thomas nach Hamburg verkehrte man in ähnlichen Kreisen unter wohlhabenden Kaufleuten und Reedern. August Joseph Schön war Mitglied der Hamburger Handelskammer und der Hamburger Bürgerschaft.
Sein Sohn Anton Matthias Schön war verheiratet mit Charlotte Helene Godeffroy (1841–1930), einer Tochter von Johann Cesar (VI.) Godeffroy (1813-1885) und Emilie (Emily) Hansbury (1815-1894). Die Godeffroys waren bedeutende Hamburger Kaufleute und Reeder – und auch sie verfolgten koloniale Interessen weitab der Hansestadt. Ihren Wohnsitz Hamburg verließen sie dabei anders als die Familie Schön nicht, lediglich für kurze Aufenthalte in der Südsee. Die Firma „Joh. Ces. Godeffroy & Sohn“ besaß mehr als 30 Frachtsegelschiffe, die zwischen Hamburg und der Südsee verkehrten, unterhielt 45 Handelsniederlassungen auf den Inseln Polynesiens, Mikronesiens und Melanesiens. Johann Cesar (VI.) Godeffroy wurde von Zeitgenossen „König der Südsee“ genannt.
Sein Interesse ging über rein Geschäftliches hinaus: Er beauftragte zunächst seine Kapitäne, später dann mehrere Forscher und eine Forscherin, die in seinem Auftrag angefahrenen Ziele in der Südsee aufmerksam zu beobachten und Tiere, Pflanzen und ethnologische Gegenstände mit nach Hamburg zu bringen. So entstand das private ethnologische „Museum Godeffroy“.[xix]
Gustav Adolph Schöns Investitionen in Weißensee
Als Gustav Adolph Schön das Rittergut Weißensee kaufte, nahm er Hypotheken in Höhe von 100.000 Talern bei der Norddeutschen Bank in Hamburg auf.[xx] Vorsitzender des Aufsichtsrats der Bank war von 1856 bis 1893 Gustav Godeffroy, ein Bruder von Johann Cesar (VI.) Godeffroy.
Gustav Adolph Schön wurde 1834 zwar in St. Thomas geboren, lebte aber einen Großteil seines Lebens in Hamburg. 1857 trat er als Teilhaber in die väterliche Firma A. J. Schön & Co. ein und gehörte ihr bis 1870 an. Am 31. Dezember 1875 wurde die Firma liquidiert. Die neue Ära der Dampfschiffe hatte zum Niedergang der Segelschiff-Reederei geführt.
Gustav Adolph Schön war verheiratet mit Julia Mathilde Levé (1839–1875) aus Moskau. Fünf Kinder gingen aus dieser Ehe hervor. 1874 führte er in Hamburg einen Scheidungsprozess gegen seine Ehefrau. Sie starb 1875 in Moskau. Als Privatmann zog Gustav Adolph Schön nach Paris, wo er 1878 die in Peru geborene Corina (Conradina) Anna Schütte (1837–1889) heiratete. Die gemeinsame Tochter wurde 1879 geboren. Schön starb am 27. Dezember 1889 in Paris.
Im Hamburg betätigte er sich wie sein Vater politisch in der Hamburger Handelskammer sowie in der Bürgerschaft und war darüber hinaus von 1871 bis 1874 Reichstagsabgeordneter für die Liberale Reichspartei. Er kannte also Berlin durch seine Arbeit als Reichstagsabgeordneter, hatte als Kaufmann vermutlich ein offenes Auge für die Entwicklung der Stadt und suchte Möglichkeiten für Investitionen.
Durch den Kauf des Ritterguts und die anschließende Veräußerung der parzellierten Grundstücke hat Gustav Adolph Schön die Urbanisierung Weißensees beschleunigt. Er hat zwar nie in Weißensee gelebt, aber trotzdem Spuren im Bezirk hinterlassen. Mehrere Familienmitglieder sind hier durch Straßennamen präsent:
Albertinenstraße: nach Louise Albertine Schön, der Frau von Gustav Adolph Schöns Bruder Christian August Wilhelm Schön
Amalienstraße: nach Christine Amalie Schön, einer Cousine von Gustav Adolph Schön
Antonplatz: nach Anton Matthias Schön, einem Bruder von Gustav Adolph Schön
Schönstraße: nach der Familie Schön
Gustav-Adolf-Straße[xxi]: nach Gustav Adolph Schön
Geld für den Erwerb des Ritterguts Weißensee stammte mit hoher Wahrscheinlichkeit aus dem Kolonialhandel der Familie Schön.
Doris Fürstenberg
ORT
SchönstraßeHEUTE
Zitieren des Artikels
Doris Fürstenberg: Gustav Adolph Schön: Von den Westindischen Inseln nach Weißensee. In: Kolonialismus begegnen. Dezentrale Perspektiven auf die Berliner Stadtgeschichte. URL: https://kolonialismus-begegnen.de/geschichten/gustav-adolph-schoen-von-den-westindischen-inseln-nach-weissensee/ (24.10.2024).
Literatur & Quellen
[i] Dies ist die stark gekürzte Fassung eines längeren Aufsatzes über Gustav Adolph Schön, der erschienen ist in: Bernt Roder (Hg.), (De)Koloniale Spuren in Pankow, Berlin 2004, S. 40-49. Dieser gedruckte Aufsatz enthält weitere biografische Details, historische Einordnungen, Abbildungen und ausführliche Literatur- und Quellenangaben.
[ii] Vgl. Der Präsident des Amtsgerichts Lichtenberg, Zentrales Grundbucharchiv, Rittergut Weißensee, Blatt 385 und 114; Alexander Giertz, Chronik der Gemeinde Weißensee bei Berlin, Weißensee bei Berlin 1905/1906; Landesarchiv Berlin, A Rep. 048-04-03 Nr. 85.
[iii] Die Familiendaten recherchiert über Ancestry sowie Deutsches Geschlechterbuch, Band 216, Limburg 2003. Weitere Angaben aus dem Familienarchiv Johannes Schön, Hamburg.
[iv] Hinzu kam 1837 als dritter Teilhaber Carl Heinrich Willink, so dass die Firma erneut umbenannt wurde, erst in Schön, Willink & Co. und schließlich in A. J. Schön & Co.
[v] Reichsarchiv Kopenhagen, St. Thomas Politikontor 1810–1895, Pasprotokoller for bortrejsende 1834–1838.
[vi] Vgl. Jörg Pepmeyer, Zucker, Rum und Sklavenarbeit. Kurzer Abriss zur Kolonialgeschichte Flensburgs und der Dänisch-Westindischen Inseln, https://www.grin.com/document/107942 (abgerufen am 16.06.2023).
[vii] Dazu eindrücklich die interaktive Karte in der Datenbank aller bekannten Schiffe, die Sklaven transportierten: https://www.slavevoyages.org/voyage/database (abgerufen am 06.05.2021).
[viii] 76 Prozent der heutigen Einwohnerinnen und Einwohner stammen von Versklavten ab. Eindrückliche Interviews im Museum Flensburg: Voices from the Virgin Islands of the United States. Die Interviews wurden vom dänischen Dokumentarfilmer Anker Li in Zusammenarbeit mit Ulla Lunn geführt, Kopenhagen 2010. https://www.youtube.com/watch?v=M25cOTV1YOs
[ix] Vgl. Annika Bärwald (Universität Bremen), noch unveröffentlichte Dissertation über Hamburger Sklavereiverbindungen und die Präsenz nicht-europäischer Menschen im Hamburger Raum 1750-1840. Ich danke Annika Bärwald, dass sie mir ein Kapitel zur Kenntnis gegeben hat.
[x] Datensammlung zu Dänisch-Westindien, Reichsarchiv Kopenhagen, Vestindiske Regnskaber. Im Rahmen dieser regionalhistorischen Recherche konnten nur online einsehbare Akten genutzt werden.
[xi] Vgl. etwa https://www.slavevoyages.org/voyage/database, abgerufen am 06.05.2021. Vgl. auch Schiffstabellen bei Annette Christine Vogt, Ein Hamburger Beitrag zur Entwicklung des Welthandels im 19. Jahrhundert: Die Kaufmannsreederei Wappäus im internationalen Handel Venezuelas und der dänischen sowie niederländischen Antillen, Wiesbaden 2003; Jürgen Meyer, Hamburger Segelschiffe 1795–1945, Norderstedt 1980.
[xii] Vgl. Schiffstabellen mit Angabe der Fracht bei Vogt, Ein Hamburger Beitrag. Sie schreibt „Schokolade“, nicht „Kakao“.
[xiii] Bärwald, unveröffentlichte Dissertation, ihre Quelle dafür: Reichsarchiv Kopenhagen, Matrikel for St. Thomas og St. Jan (1833), 571 Vestindiske Regnskaber 83.37, fol. 19 sowie Matrikel for St. Thomas og St. Jan (1838), 571 Vestindiske Regnskaber 83.42, fol. 5.
[xiv] Plantage Henrietta, Puerto Rico. Vgl. https://jaimemontilla.com/enriqueta (abgerufen am 06.05.2021). Ich danke Jaime Montilla für wichtige Informationen.
[xv] Vgl. Bärwald, unveröffentlichte Dissertation.
[xvi] Ihre Namen konnten leider nicht ermittelt werden.
[xvii] E-Mail von Annika Bärwald vom 12.06.2023.
[xviii] Vgl. Bärwald, unveröffentlichte Dissertation. Hamburg verbot den Sklavenhandel 1837.
[xix] Vgl. Helene Kranz (Hg): Das Museum Godeffroy. 1861–1881. Naturkunde und Ethnographie der Südsee. Hamburg 2005; sowie Birgit Scheps: Das verkaufte Museum. Die Südsee-Unternehmungen des Handelshauses Joh. Ces. Godeffroy & Sohn, Hamburg, und die Sammlungen „Museum Godeffroy“. Keltern-Weiler 2005.
[xx] Der Präsident des Amtsgerichts Lichtenberg, Zentrales Grundbucharchiv, Rittergut Weißensee, Blatt 385.
[xxi] Der Straßenname ist falsch geschrieben: Gustav-Adolf-Straße statt Gustav-Adolph-Straße