„Adjak“ in Gips. Eckdaten einer (Objekt-)Biografie

Neben Gipsabgüssen bedeutender Skulpturen beherbergt die Gipsformerei der Staatlichen Museen zu Berlin auch Abformungen lebender Menschen, die der Erforschung vermeintlicher »Menschenrassen« dienten. Am Beispiel des Ganzkörperabgusses eines Mannes namens „Adjak“ zeigt dieser Beitrag, was sich hinter einer historischen Gussform verbirgt und welche Rolle das problematische Erbe der kolonialen physischen Anthropologie für die Rekonstruktion individueller Lebensgeschichten spielen kann.

 

Zwischen Manufaktur und historischer Museumssammlung

Die Berliner Gipsformerei ist ein ungewöhnlicher Ort: Sie ist sowohl Handwerksbetrieb als auch Museumssammlung und gilt als älteste Einrichtung der Staatlichen Museen zu Berlin. Ihr offizielles Gründungsdatum ist der 8. Dezember 1819. An jenem Tag erließ König Friedrich Wilhelm III. eine Kabinettsorder zur Einrichtung einer „Abguss-Anstalt“, von der sich der preußische Staat eine neue Einnahmequelle und die Stärkung seiner kulturpolitischen Beziehungen erhoffte. Seit jener Zeit produziert die Gipsformerei Abgüsse bedeutender Werke der Kunst- und Kulturgeschichte und verkauft diese an Museen, Universitäten, öffentliche Einrichtungen, Künstler:innen und Privatpersonen weltweit.[1]

Im Jahr 1891 zog die Gipsformerei von Berlin-Mitte nach Charlottenburg. Das heute unter Denkmalschutz stehende Gebäude in der Sophie-Charlotten-Straße 17/18 (Abb. 1) war seinerzeit extra errichtet worden, nachdem die Werkstatt in der Münzstraße für die stetig wachsende Formensammlung und die immer monumentaler werdenden Abgüsse zu klein geworden war. Dank des Umzugs hat die Formen- und Modellsammlung den Zweiten Weltkrieg nahezu unbeschadet überstanden, während große Teile des Berliner Zentrums in Schutt und Asche lagen. Heute ist die Gipsformerei ein Ort lebendiger Geschichte, an dem das alte Handwerk des Formenbaus und Gipsgießens in einer Manufaktur gepflegt und der historische Sammlungsbestand wissenschaftlich erforscht wird. Abgüsse werden mittlerweile über einen Online-Katalog vertrieben, und dem historischen Backsteingebäude, das Gips-, Maler- und Schlosserwerkstätten, Formen- und Modelllager, eine Packerei, Büros und einen Verkaufsraum umfasst, steht in den nächsten Jahren eine umfangreiche Sanierung bevor.

Über 20.000 Formen und Modelle, die auf mehr als 7.000 Bildwerke von der Prähistorie bis ins frühe 20. Jahrhundert zurückgehen, zählt die Sammlung der Gipsformerei heute (Abb. 2 u. 3). Nachdem der Sammelschwerpunkt gemäß den Vorlieben der Zeit zunächst auf der griechisch-römischen Antike und der damals zeitgenössischen Skulptur etwa der Berliner Bildhauerschule lag, erweiterte sich das Angebot parallel zu den Museumsgründungen des 19. Jahrhunderts. So hielten in der zweiten Jahrhunderthälfte Werke der europäischen Bildhauereigeschichte vom Mittelalter bis zum Barock, aber auch ägyptische und vorderasiatische Altertümer, vor- und frühgeschichtliche Archäologica und der Ethnologie zugeordnete Kunstwerke aus Afrika, Asien, Australien, Ozeanien und Südamerika Einzug in die Sammlung. Die Gipsformerei bildete in einem musée imaginaire musée imaginaire der Gipse ab, was unter eurozentristischen Gesichtspunkten als kanonisch betrachtet wurde. Zugleich spiegelt sie die heute kontrovers diskutierte Idee des Universalmuseums im Medium des Abgusses.[2]

Sensible Sammlungen in der Re-Vision

Im Folgenden soll es weder um die Verkaufsschlager der Gipsformerei noch um die historischen Konjunkturen und Flauten von Gipsabgüssen gehen. Stattdessen soll Licht in ein dunkles Kapitel der Sammlungsgeschichte des Hauses gebracht werden, das erst seit kurzer Zeit genauer erforscht wird. Es bezieht sich auf die knapp dreihundert Lebendabgüsse, die europäische Anthropologen um die Wende zum 20. Jahrhundert von den Gesichtern und Körpern nicht-europäischer Menschen abnahmen. Abgüsse dieser Art sollten die Idee verschiedener ethnischer Typen in der Forschung fundieren und in der Lehre vermitteln. Die zugehörigen historischen Gussformen lagern bis heute in der Gipsformerei.[3]

Anthropologische Abgüsse aus kolonialen Kontexten gelten als sensible Sammlungsgegenstände, die mit besonderem Bedacht erforscht und ausgestellt werden müssen. Ihre Entstehungs- und Verwendungskontexte sind in den meisten Fällen ethisch problematisch: Einerseits wurden sie unter Anwendung epistemischer, psychischer und manchmal auch körperlicher Gewalt sowie unter Missachtung kultureller Gewohnheiten und Werte gefertigt. Andererseits dienten sie der Fundierung und Verbreitung rassistischer Lehren und beförderten damit Diskriminierung und weiße Vorherrschaft.[4] An einer solchen kolonialen Wissensproduktion hatten Institutionen wie die Gipsformerei aktiven Anteil, da sie Abgüsse von Gesichtern, Körperteilen oder ganzen Menschen als vermeintlich wissenschaftliches „Beweismaterial“ herstellten, an Museen und Universitäten auf der ganzen Welt verkauften und entsprechende Gesinnungen damit im Wortsinn reproduzierten. Mit der „Erfindung der Menschenrassen“, deren Existenz längst wissenschaftlich widerlegt ist, erfolgte eine Ideologisierung, die in der Eugenik (»Rassenhygiene«) des Dritten Reiches ihren negativen Höhepunkt erreichte und bis heute in den rassistischen Tendenzen unserer Gesellschaft fortlebt.[5] Koloniale Kontinuitäten gilt es deshalb auch im Sinne einer kritischen Revision der eigenen Institutionengeschichte zu überwinden.

Zu einer solchen buchstäblichen Re-Vision der Sammlungsgeschichte der Gipsformerei soll dieser Text in exemplarischer Weise beitragen. In seinem Zentrum steht die Gussform mit der Inventarnummer 4097, deren lange Zeit unerforschte Provenienz im Folgenden skizziert wird.[6] Die mehrteilige Gipsstückform basiert auf einer knapp zwei Meter großen Skulptur, die einen unbekleideten stehenden Mann von hoher und schlanker Statur darstellt. Seit den späten 1890er-Jahren wurde der Abguss dieser Skulptur als „Lebensgroße Figur eines Dinka“ von der Gipsformerei zum Verkauf angeboten (Abb. 4). Im Verkaufsverzeichnis von 1900 kostete er siebzig, in den Ausgaben von 1906 und 1911 hundert Mark.[7] Laut den Auftragsbüchern wurden bis 1919 mindestens neun Abgüsse der Figur verkauft.[8] Seit dieser Zeit liegt die vielteilige Gipsstückform in geschlossenem Zustand im Formenlager der Gipsformerei. Für die wissenschaftliche Untersuchung durch die Autorin wurde sie im Sommer 2020 erstmals vollständig geöffnet (Abb. 5).[9]

„Adjak“: Fragmente einer Biografie

Grundlegende Informationen über den dargestellten Mann und die Umstände, die zu seinem Figurenbildnis führten, liefert ein Briefwechsel zwischen dem deutschen Bildhauer Ernst Bernardien und dem Königlichen Museum für Völkerkunde in Berlin, dem heutigen Ethnologischen Museum der Staatlichen Museen zu Berlin. In einem Brief vom 4. Februar 1895 informiert Bernardien den Gründungsdirektor des Museums, Adolf Bastian, dass er von Louis Castan, dem seinerzeitigen Betreiber des Berliner Wachsfigurenkabinetts Castan’s Panoptikum, die Erlaubnis erhalten habe, den „Dinka Adjak“ im Panoptikum „plastisch nachzubilden“.[10] Aus diesem Brief erfahren wir auch, dass es der prominente Mediziner, Anthropologe und Ethnologe Rudolf Virchow war, der „Adjak“ für ein Ganzkörperbildnis für das Königliche Museum für Völkerkunde auswählte, und dass „Adjak“ zu einer größeren Gruppe der im Südsudan beheimaten Ethnie der Dinka gehörte, die zu jener Zeit in Castan‘s Panoptikum „gastierten“. Im weiteren Verlauf des Briefes erwähnt Bernardien einen Gipsabguss der Figur, der von der Königlichen Gipsformerei angefertigt werden solle. Vor diesem Hintergrund liegt es nahe, dass die in dem Brief erwähnte Skulptur mit der hier untersuchten Gipsform in Verbindung steht, und dass die „lebensgroße Figur eines Dinka“ tatsächlich das plastische Portrait eines südsudanesischen Mannes namens „Adjak“ ist.

Der Verweis auf Castan‘s Panoptikum liefert weitere Anknüpfungspunkte. Wie sich herausstellt, handelte es sich bei der 1895 in Berlin weilenden Dinka-Gruppe um die unter einem deutschen „Führer“ auftretende so genannte »Dinka-[N-Wort-]Karawane«, die Stationen in Budapest, Breslau, Dresden, Frankfurt, Stuttgart, Basel und München gemacht hatte, bevor sie Ende 1894 ihr Winterquartier in Berlin bezog.[11] Die im Sinne vorherrschender Stereotype unzulänglich als »Karawane« bezeichnete Gruppe war Teil einer neuen Unterhaltungsindustrie, die ab Mitte des 19. Jahrhunderts bis in die 1930er-Jahre in (West-)Europa und Nordamerika florierte: Zum Zweck der kolonialen Propaganda, für das Amüsement der einheimischen Bevölkerung und mit großem kommerziellen Erfolg wurden Menschen, die gemäß eines omnipräsenten kolonialen Blickes als »exotisch«, »wild« oder »primitiv« gelesen wurden, in so genannten »Völkerschauen« ausgestellt. Schaustellungen dieser Art fanden in zoologischen Gärten, auf Jahrmärkten, in Varietés oder im Rahmen von Weltausstellungen statt. Häufig hatten sie Vorführungscharakter und folgten einer vorgeschriebenen Choreographie.[12]

In den historischen Dokumenten der »Dinka-Karawane«[13] konnten bis dato keine Hinweise auf die Person hinter dem Namen „Adjak“ gefunden werden. Wir wissen nicht, wer „Adjak“ war, ob sein Name richtig bzw. richtig geschrieben ist[14], wann und unter welchen Umständen er nach Deutschland kam, welche Rolle er in der »Karawane« spielte, wie er sein Leben und Arbeiten in Berlin und andernorts erlebte und ob, wann und wie er in seine Heimat zurückkehrte. Deutlich wird jedoch das ideologische, soziale und wirtschaftliche Umfeld, in dem sich „Adjak“ im Europa des späten 19. Jahrhunderts wiederfand. Es offenbart sich als ein historisches Setting, in dem Menschen wie Zootiere ausgestellt, durch harte Arbeit ausgebeutet und rassistisch diskriminiert wurden. Die »Karawane« verdeutlicht, dass die »Völkerschauen«, aber auch die allgemeinen anthropologischen Interessen jener Zeit nicht auf das menschliche Individuum, sondern auf »Typen« und »Rassen« gerichtet waren. In der Folge sind in den kolonialen Archiven häufig nur fragmentarische biografische Angaben zu den beteiligten Personen zu finden.

Von der »Völkerschau« zum Figurenbildnis in Gips

Wie kam es nun zum skulpturalen Bildnis „Adjaks“? „Dass der Dinka in meinem Atelier modelliert werde, kann der Führer der Gruppe Herr Gehring nicht gestatten, da die Leute sich beim Verlassen des Hauses leicht erkälten“, schreibt Bernardien im weiteren Verlauf des oben erwähnten Briefes vom 4. Februar 1895. „Adjak“ musste daraufhin im Panoptikum posieren, wo sich der Bildhauer „aus Mangel an Raum“ auf die Anfertigung eines „Hilfsmodell[s] von 80 cm Höhe“ beschränkte, um die lebensgroße Figur später in seinem Atelier auszuführen. Bernardiens Brief sind zwei Kostenvoranschläge beigefügt – einer für das Hilfsmodell, der andere für die lebensgroße Figur. Der erste Kostenvoranschlag enthält neben dem Bildhauerhonorar (300 Mark), zehn Kilogramm Plastilin (20 Mark) und Eisen für die Verstärkung der Figur (5 Mark) auch ein „Modellgeld oder Geschenk für den Dinka“, für das Bernardien statt eines Geldbetrages ein Fragezeichen notiert hat. Gemäß der Korrespondenz wird die Figur im Oktober fertiggestellt.[15] Es folgen schriftliche Verhandlungen um die schlussendliche Honorierung Bernardiens.[16] Im Frühjahr 1896 – über ein Jahr, nachdem die Idee der Portraitplastik geboren worden war – bestätigt Adolf Bastian den Eingang der Skulptur in die Sammlung des Völkerkundemuseums, in dessen Depot sie sich noch heute befindet; wenig später wird in der Gipsformerei die Gussform für die Vervielfältigung der Figur gefertigt.[17]

Die Genese und Erwerbung der Skulptur lassen sich demnach verhältnismäßig eindeutig nachzeichnen. Doch bleibt eine Ungereimtheit im Entstehungsprozess bestehen: Während die schriftlichen Quellen nämlich klar auf eine frei modellierte Portraitplastik hindeuten, vermittelt die geöffnete Gipsform ein anderes Bild. An Hand- und Fußrücken, Handgelenken und Knöcheln, Knien, Fersen und anderen Körperteilen mit ausgeprägter Hautstruktur haben sich deutlich sichtbar Poren, Furchen und Falten in die Oberfläche des Gipses übertragen – eindeutige Anzeichen einer zumindest anteiligen Körperabformung (Abb. 6). Die genauen Bedingungen, unter denen „Adjak“ im Jahr 1895 Modell stand, bleiben damit vage – sowohl mit Blick auf die intime, häufig als übergriffig und unangenehm erlebte Situation einer potenziellen Körperabformung, als auch hinsichtlich der „Augenhöhe“ dieser Begegnung zwischen Künstler und Modell. Denn auch wenn die Zahlung eines Honorars zumindest vorgesehen war und – so der Hinweis in einem späteren Brief[18] – offenbar auch ein Dolmetscher hinzugezogen worden war, muss doch davon ausgegangen werden, dass dieses Bildnis unter ungleichen und ausbeuterischen Machtverhältnissen, dem zwangsläufigen Diktat der selbsternannten deutschen Autoritäten und damit in einem für „Adjak“ grundsätzlich nachteiligen Setting entstanden ist.

Auf der Suche nach weiteren Informationen über „Adjak“ führt uns der Panoptikumskontext nun zu einem schriftlichen Bericht von Rudolf Virchow, in dem dieser die bei Castan „gastierenden“ Dinka unter biologischen Gesichtspunkten „bespricht“.[19] Denn für die akademische Welt hatten »Völkerschauen« in erster Linie einen rein praktischen Wert: Die Wissenschaftler:innen nutzten die ausgestellten Menschen als Forschungsobjekte. Um übergreifende »Rassenmerkmale« zu bestimmen und mit positivistischen Erkenntnissen zu untermauern, wurden die Menschen medizinisch untersucht, anthropometrisch vermessen, fotografiert und in Gips abgeformt. Für die Mitglieder der Berliner Gesellschaft für Anthropologie, Ethnologie und Urgeschichte (BGAEU) war es daher nichts Ungewöhnliches, »Völkerschauen« gemeinsam aufzusuchen oder sich die jeweiligen Menschen „vorführen“ zu lassen.

Am 26. Januar 1895 ließ Virchow „einige von [ihm] ausgewählte Persönlichkeiten“ der Dinka-Gruppe zu einer Sitzung der BGAEU bringen und bat seine Kollegen, „die höchst eigenthümlichen Erscheinungen genauer mustern zu wollen“.[20] Anhand der lebenden „Studienobjekte“ erörterte er Haut-, Haar- und Augenfarben, Tätowierungen, Physiognomien, anatomische Merkmale, Statur und Körpermaße und fasste seine Beobachtungen in dem genannten schriftlichen Bericht zusammen. Ein Mann namens „Atjak“ [sic] ist Teil von Virchows vergleichenden Studien und erlangt unter anderem aufgrund seiner außergewöhnlichen Armlänge Beachtung. Es muss diese Sitzung der BGAEU im Januar 1895 gewesen sein, in der Virchow beschloss, einen Ganzkörperabguss des Mannes für das fast zehn Jahre zuvor eröffnete Museum für Völkerkunde anfertigen zu lassen. Zeitgenössischen Quellen lässt sich entnehmen, dass es dem Museum zu jener Zeit an ethnografischen Schaufiguren fehlte, anhand derer Kleidung und Schmuck in einer vermeintlich authentischen Art und Weise präsentiert werden konnte.[21] Dieser Mangel sollte durch die Anschaffung von Figuren wie derjenigen von „Adjak“ behoben werden.

„Überleben im Bild“[22]

In Virchows Bericht ist „Adjak“ die einzige Person, von der eine Fotografie abgedruckt wurde (Abb. 7).[23] Wenn wir heute das Foto betrachten, so wird jene Person, deren Existenz bis dato eher abstrakten Charakter hatte, zum ersten Mal lebendig. Das Schwarz-Weiß-Foto wurde in der Publikation fast ganzseitig reproduziert. Der junge Mann wurde unbekleidet, in Seitenansicht und vor einem neutralen Hintergrund fotografiert, er steht aufrecht in schreitender Haltung und blickt geradeaus. Dabei rückt die scheinbar neutrale Seitenansicht die hohe und schmale Statur des Mannes und seine langen, schlanken Gliedmaßen in den Blick. Auf subtile Weise wird so die Aufmerksamkeit der Betrachter:innen auf diejenigen Merkmale des Körpers gelenkt, die im Mittelpunkt der anthropologischen Forschung standen; die Fotografie wird zum Beweismaterial einer wissenschaftlichen These. Zugleich offenbart sie sich als das Ergebnis einer diskriminierenden Inszenierung, bei der ein Mensch objektiviert und auf seine äußere Hülle reduziert wurde.

Zusammenfassend lässt sich festhalten: Während die hier herangezogenen historischen Dokumente in erster Linie verstörende Einblicke in die entwürdigende Forschungspraxis der kolonialzeitlichen physischen Anthropologie gewähren, ist es das materielle Erbe genau jener Praxis, das sich am Ende wiederum produktiv machen lässt: Die von Virchow für „Adjak“ angegebene Körpergröße entspricht in etwa der Größe des von der Gipsformerei zum Verkauf angebotenen Abgusses (194,6 cm vs. 192 cm), und die äußere Erscheinung von „Adjak“ auf dem Foto entspricht derjenigen in der Gipsform. Wir können nun mit Sicherheit davon ausgehen, dass der Mann auf dem Foto derjenige ist, der von Bernardien nachgebildet und in Gips gebannt wurde. Die Identifizierung des in der Gussform 4097 portraitierten namenlosen Dinka ist gelungen, Eckdaten seiner Biografie und die groben Umstände der Modellierung konnten rekonstruiert und der Eintrag im Inventar der Gipsformerei konnte personalisiert werden. Die Gipsform, das anthropologische Foto und die Messdaten – zugleich der materielle Output einer rassistischen Forschungspraxis und die einzigen persönlichen Dokumente von „Adjak“, die wir haben – werden damit zu Katalysatoren ihrer eigenen Geschichte, indem sie ihre ursprüngliche Funktion transzendieren und neue Bedeutungsebenen freisetzen. Dank ihnen können wir uns ein Bild jener in der kolonialen Geschichtsschreibung marginalisierten Person machen und ein anonymisiertes Objekt mit einem Gesicht, einer Identität, einem Menschen verknüpfen. (Abb. 8)

provided by Charlottenburg-Wilmersdorf

Abb. 1: Die Gipsformerei in der Sophie-Charlotten-Str. 17/18, Berlin 2021, Fotografie, © Staatliche Museen zu Berlin – Gipsformerei, Thomas Schelper.

Abb. 2: Modellhalle der Gipsformerei, Berlin 2019, Fotografie, © Staatliche Museen zu Berlin – Gipsformerei, Philip Radowitz.

Abb. 3: Formenlager der Gipsformerei, Berlin, 2019, Fotografie, © Staatliche Museen zu Berlin – Gipsformerei, Philip Radowitz.

Abb. 4: Verkaufsverzeichnis der Gipsformerei (1911) mit dem Eintrag zur Figur eines Dinka an vierter Stelle, Berlin, 2019, Verkaufsverzeichnis, © Staatliche Museen zu Berlin – Kunstbibliothek, Dietmar Katz.

Abb. 5: Geöffnete Gipsstückform der Figur, Berlin, 2020, Fotografie, © Staatliche Museen zu Berlin – Gipsformerei, Veronika Tocha.

Abb. 6: Teil der Gipsstückform (rechte Hand), Berlin, 2020, Fotografie, © Staatliche Museen zu Berlin – Gipsformerei, Veronika Tocha.

Abb. 7: Anthropologische Fotografie Adjaks in Virchows Bericht, Berlin, Fotografie, © Staatliche Museen zu Berlin – Kunstbibliothek, Dietmar Katz, Bearbeitung: Museum Charlottenburg-Wilmersdorf

Abb. 8: Anthropologische Fotografie Adjaks im Portraitausschnitt, Berlin 1895, Fotografie (Detail von Abb. 7) © Staatliche Museen zu Berlin – Kunstbibliothek, Dietmar Katz, Bearbeitung: Museum Charlottenburg-Wilmersdorf.

Veronika Tocha

ORT

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Gipsformerei, Sophie-Charlotten-Straße 17/18

Zitieren des Artikels

Veronika Tocha: „Adjak“ in Gips. Eckdaten einer (Objekt-)Biografie. In: Kolonialismus begegnen. Dezentrale Perspektiven auf die Berliner Stadtgeschichte. URL: http://kolonialismus-begegnen.de/geschichten/adjak-in-gips-eckdaten-einer-objekt-biografie/ (25.02.2022).

Literatur & Quellen

[1] Anlässlich des 200-jährigen Jubiläums fand 2019/20 eine umfangreiche Sonderausstellung in der James-Simon-Galerie statt. Vgl. Tocha, Veronika: Nah am Leben. 200 Jahre Gipsformerei [Aust. Kat. Staatliche Museen zu Berlin, 30.8.2019–1.3.2020]. Berlin/New York: 2019. Walter de Gruyter.

[2] Einen umfassenden Überblick über die Geschichte des Gipsabgusses liefert folgender Tagungsband: Frederiksen, Rune/Marchand, Eckart (Hg.): Plaster casts. Making, collecting, and displaying from classical antiquity to the present (= Transformationen der Antike). Berlin/New York: 2010. Walter de Gruyter. Zur Geschichte der Gipsformerei vgl. Einholz, Sibylle: „Feiner, weißer … Gips!“ Zur Bedeutung eines umstrittenen Materials: 100 Jahre Gipsformerei der Staatlichen Museen in Charlottenburg [Ausst.-Heft Heimatmuseum Charlottenburg, 1.7.–4.8.1991]. Berlin: 1991. Kunstamt Charlottenburg; Hiller von Gaertringen, Hans Georg: Meisterwerke der Gipsformerei. Kunstmanufaktur der Staatlichen Museen zu Berlin seit 1819. München: 2012. Hirmer; Schröder-Griebel, Nele/Winkler-Horaček, Lorenz (Hg.): … von gestern bis morgen … Zur Geschichte der Berliner Gipsabguss-Sammlung(en) [Ausst.-Kat. Abguss-Sammlung Antiker Plastik Berlin, Winckelmann-Institut der Humboldt-Universität zu Berlin, Antikensammlung der Staatlichen Museen zu Berlin, Gipsformerei der Staatlichen Museen zu Berlin, 13.10.2012–26.5.2013]. Rahden: 2012. Leidorf. Vgl. insb. Kap. 1.4 Die Gipsformerei der Berliner Museen — Kunstmanufaktur seit 1819. S. 81-122.

[3] Eine erste „Bestandsaufnahme“ erfolgte in der Ausstellung Nah am Leben. 200 Jahre Gipsformerei, vgl. Tocha 2019, insb. Kap. Zu nah am Leben: S. 60-105.

[4] Der Deutsche Museumsbund klassifiziert Abformungen aus kolonialen Kontexten als sensibles Sammlungsgut, das „in den Herkunftsgesellschaften und für Nachfahr*innen die gleiche Bedeutung wie menschliche Überreste haben [kann]“; er problematisiert die Entstehungs- und Verwendungskontexte der Abformungen aus den genannten Gründen, leitet aber keine konkreten Empfehlungen zum Umgang mit diesen ab. Vgl. Leitfaden: Umgang mit menschlichen Überresten in Museen und Sammlungen. Berlin: 2021. Deutscher Museumsbund. S. 15-16; vgl. auch Leitfaden: Umgang mit Sammlungsgut aus kolonialen Kontexten. Berlin: 2021. Deutscher Museumsbund. S. 20-21, 61-62; vgl. weiterführend Berner, Margit/Hoffmann, Anette/Lange, Britta: Sensible Sammlungen. Aus dem anthropologischen Depot. Hamburg: 2011. Philo Fine Arts.

[5] Vgl. Wernsing, Susanne/Geulen, Christian/Vogel, Klaus (Hg.): Rassismus: Die Erfindung von Menschenrassen [Aust.-Kat. Deutsches Hygiene-Museum Dresden, 19.05.2018–07.01.2019]. Göttingen: 2018. Wallstein Verlag.

[6] Erstmals und in kürzerer Form wurde die „Objektbiografie“ der Form in der Ausstellung Nah am Leben beleuchtet, vgl. Tocha 2019: S. 68-69. Eine erste Erwähnung in der Forschungsliteratur findet die Figur in der 35-bändigen historischen Aufarbeitung von Castan’s Panoptikum. Vgl. Friederici, Angelika: Castan’s Panoptikum. Ein Medium wird besichtigt. Band 27 (D12): Veranstaltungen 1876, 1886, 1896, 1906 und ein ‚Kriegspanoptikum’ 1915/16. Berlin: 2016. Verlag Karl-Robert Schütze. S. 15.

[7] Vgl. General-Verwaltung (Hg.): Verzeichnis der in der Formerei der Königlichen Museen käuflichen Gipsabgüsse. Berlin: 1893, 3. Nachtrag 1900. Königliche Museen zu Berlin. S. 14; General-Verwaltung (Hg.): Verzeichnis der in der Formerei der Königlichen Museen käuflichen Gipsabgüsse (Prähistorische, ethnologische und anthropologische Gegenstände). Berlin: 1906. S. 38; General-Verwaltung (Hg.): Verzeichnis der in der Formerei der Königlichen Museen käuflichen Gipsabgüsse (Prähistorische, ethnologische und anthropologische Gegenstände). Berlin: 1911. S. 50.

[8] Vgl. Historisches Auftrags- bzw. Verkaufsbuch, Band 11 (Inv. 4001–4400), nicht inventarisiert, ohne Paginierung. Die Käufer:innen lassen sich nur im Einzelfall rekonstruieren. Gesichert ist ein Ankauf durch das Museum für Natur- und Völkerkunde in Freiburg, heute Museum für Natur und Mensch, im Mai 1905. Vgl. die Datenbank der Universitätssammlungen in Deutschland http://www.universitaetssammlungen.de/modell/251. (Letzter Abruf 29.11.2021). Das „Nachleben“ der Skulptur in ihren Abgüssen ist Gegenstand eines Textes der Autorin, der an anderer Stelle erscheint.

[9] Ich danke Thomas Schelper für die praktische Unterstützung beim Handling der Form und die fachkundige Mitarbeit bei der Auslesung der Oberflächen.

[10] Handgeschriebener Brief von Ernst Bernardien an Adoph Bastian, 4. Februar 1895. Staatliche Museen zu Berlin – Ethnologisches Museum, I B 15 Afrika, E 69/1896, Blatt 150. Zum Panoptikum vgl. Friederici, Angelika: Castan’s Panoptikum. Ein Medium wird besichtigt. 35 Bände. Berlin: 2008-2020. Verlag Karl-Robert Schütze.

[11] Vgl. Staehelin, Balthasar: Völkerschauen im Zoologischen Garten Basel, 1879–1935. Basel: 1993. Basler Afrika Bibliographien. S. 157.

[12] Vgl. weiterführend Dreesbach, Anne: Gezähmte Wilde: Die Zurschaustellung ‚exotischer‘ Menschen in Deutschland 1870–1940. Frankfurt a. M.: 2005. Campus Verlag.

[13] Zur Vermeidung der repetitiven Nennung und neuerlichen Verselbständigung der rassistischen Fremdbezeichnung »Dinka-[N-Wort-]Karawane« wird diese im Folgenden in der Kurzform wiedergegeben.

[14] Da der Name deshalb unvollständig, falsch oder falsch geschrieben sein kann, wird er in diesem Artikel in Anführungszeichen gesetzt.

[15] Handgeschriebener Brief von Ernst Bernardien an Adolf Bastian, 28. November 1895. Staatliche Museen zu Berlin – Ethnologisches Museum, I B 15 Afrika, E 69/1896, Blatt 154.

[16] Staatliche Museen zu Berlin – Ethnologisches Museum, E 69/1896, Blätter 155-158.

[17] Handgeschriebener Vermerk von Oskar Sielcke, 13. März 1896. Staatliche Museen zu Berlin – Ethnologisches Museum, I B 15 Afrika, E 69/1896, Blatt 160; Randnotiz von Adolf Bastian auf dem handgeschriebenen Brief von Adolf Bastian an Ernst Bernardien, 20. Januar 1896. Staatliche Museen zu Berlin – Ethnologisches Museum, I B 15 Afrika, E 69/1896, Blatt 160.

[18] Handgeschriebener Brief von Ernst Bernardien an Adolf Bastian, 28. November 1895. Staatliche Museen zu Berlin – Ethnologisches Museum, I B 15 Afrika, E 69/1896, Blatt 154.

[19] Hr. Rud. Virchow bespricht die zur Zeit in Castan‘s Panopticum befindlichen Dinka (= Ausserordentliche Sitzung vom 26. Januar 1895). In: Zeitschrift für Ethnologie. 27 (1895). S. 89–170.

[20] Ebd.: S. 149.

[21] „Die afrikanische Abteilung des Museums für Völkerkunde entbehrt bei aller Reichhaltigkeit der ethnographischen Sammlungen bislang noch immer jeglicher Sculptur, seien es Gypsabgüsse von Köpfen oder von ganzen Figuren“ – so beschreibt Karl Weule die Situation in einem handgeschriebenen Brief vom 12. Juni 1894. Staatliche Museen zu Berlin – Ethnologisches Museum, I B 13 Afrika, E 791/1894.

[22] Diese Zwischenüberschrift zitiert die Ausstellung Überleben im Bild. Wege aus der Anonymität anthropologischer „Typenfotografien“ in der Sammlung Emma und Felix von Luschan. photoinstitut Bonartes. Wien, 29.07.2021–21.01.2022. Vgl. Matiasek, Katarina (Hg.): Überleben im Bild. „Rettungsanthropologie“ in der fotografischen Sammlung Emma und Felix von Luschan (= Beiträge zur Geschichte der Fotografie in Österreich, Band 21). Salzburg: 2021. Fotohof edition.

[23] Vgl. Virchow 1895: S. 161.

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