Der Reichskolonialbund im heutigen Marzahn-Hellersdorf

Einleitung: Kolonialrevisionismus nach 1919

Zwischen 1884 und 1914 herrschte das Deutsche Reich über Kolonien in Afrika, Asien und dem Pazifik. Nach dem Ersten Weltkrieg wurden Deutschland die Kolonien durch den Versailler Vertrag aberkannt und unter ein Mandat des Völkerbundes gestellt. Das Ende der formalen deutschen Kolonialherrschaft bedeutete jedoch nicht das Ende kolonialer Fantasien und Ambitionen. In der Weimarer Republik führte eine erstarkende Kolonialbewegung kolonialistische Ideen und Absichten fort und verfolgte das Ziel, die ehemaligen deutschen Gebiete in Afrika wiederzugewinnen. Dieses Bestreben wird Kolonialrevisionismus genannt und in der Geschichtswissenschaft als Phänomen des Kolonialismus ohne Kolonien verhandelt.[1]

In der Zeit des Nationalsozialismus weiteten die kolonialrevisionistischen Kräfte ihre Aktivitäten aus. Der gleichgeschaltete »Reichskolonialbund« gründete überall in Berlin Ortsgruppen – ab 1937 auch in den Ortsteilen, die heute den Bezirk Marzahn-Hellersdorf bilden. Dieser Beitrag zeichnet die politische Entwicklung des Reichskolonialbundes von der Gleichschaltung 1933 bis zur Auflösung 1943 nach und stellt die lokalen Aktivitäten der Ortsgruppen im heutigen Marzahn-Hellersdorf in Beziehung zur NS-Kolonialpolitik im Ganzen.[2] Auf welche Weise trugen die lokalen Strukturen in Biesdorf, Kaulsdorf und Mahlsdorf dazu bei, kolonialistische Gedanken zu verbreiten? Wie war das Verhältnis zwischen kolonialen Interessensverbänden und NSDAP-Parteistrukturen vor Ort? Welche Handlungsspielräume boten sich der Kolonialbewegung zwischen williger Anpassung an das NS-Regime und unerbittlichem Festhalten an ihrem traditionellen Kurs?

Untersucht werden diese Fragen anhand von Zeitungsartikeln aus dem Lichtenberger Anzeiger und Tageblatt. Die heute zum Bezirk Marzahn-Hellersdorf gehörenden Ortsteile waren bis Ende des 20. Jahrhunderts Teil des Bezirks Lichtenberg; daher berichtete das dortige Lokalblatt über die Aktivitäten des Reichskolonialbundes in Biesdorf, Kaulsdorf und Mahlsdorf. Aufgrund der spärlichen Quellenlage versteht sich der Beitrag als Fragment einer Suche nach kolonialen Spuren im heutigen Marzahn-Hellersdorf.[3]

Die Gleichschaltung der Kolonialbewegung im Nationalsozialismus

Die Aberkennung der Kolonien nach dem Ersten Weltkrieg wurde von weiten Teilen der deutschen Bevölkerung als unrechtmäßige Wegnahme empfunden und als Symbol für Deutschlands untergeordnete Rolle in der neuen Weltordnung angesehen.[4] Dementsprechend erhob die Kolonialbewegung in der Weimarer Republik die Rückgewinnung der Kolonien zu einer Frage des nationalen Prestiges; dennoch gelang es ihr nicht, der Kolonialfrage die gewünschte politische Bedeutung zu verschaffen.[5] Ihre enttäuschten Hoffnungen setzten die kolonialen Verbände schließlich in die Nationalsozialisten und seit dem Ende der 1920 Jahre näherten sich Kolonialbewegung und NS-Bewegung sowohl inhaltlich als auch personell einander an.[6]

1933, im Jahr der Machtübergabe an die Nationalsozialisten, wurde die Kolonialbewegung gleichgeschaltet und baute ihre Organisationen bereitwillig um. Zum Beispiel wurden alle kolonialen Jugendverbände in die Hitler-Jugend eingegliedert.[7] 1936 wurden die bestehenden Kolonialverbände wie beispielsweise die seit 1887 bestehende Deutsche Kolonialgesellschaft aufgelöst und im Reichskolonialbund (RKB) vereinheitlicht. Zusätzlich wurde ein Kolonialpolitisches Amt eingerichtet, das sich als für Kolonialfragen zuständige Behörde der NSDAP mit diesbezüglichen politischen, wirtschaftlichen und wissenschaftlichen Belangen befasste.[8]

Sowohl ideologisch als auch organisatorisch fügte sich die Kolonialbewegung in den Nationalsozialismus ein. Der RKB wusste seine gleichgeschaltete Struktur innerhalb des NS-Systems zu seinem Vorteil zu nutzen und sich durch die öffentliche Zugehörigkeit zu nationalsozialistischen Organisationen zu legitimieren. Sichtbarer Ausdruck dessen war, dass nach 1937 ein Hakenkreuz mittig in das RKB-Emblems eingefügt wurde.[9] Trotz der Loyalität zum NS-Regime und der willigen Anpassung an die neuen Rahmenbedingungen der nationalsozialistischen Diktatur, hielten die Kolonialisten auch an traditionellen Inhalten fest, die nicht von allen NS-Eliten geteilt wurden.[10] Dies betraf insbesondere Debatten über Kolonialpolitik und Ostpolitik, wobei die Kolonialbewegung auf revisionistischen Ansprüchen zur Rückgewinnung der Kolonien in Afrika beharrte, während die NS-»Weltmachtpolitik« primär in auf eine Expansion in Osteuropa ausgerichtet war.

Der RKB verstärkte Ende der 1930er Jahre seine agitatorischen Bemühungen um die Unterstützung der Massen mit propagandistischen Aufmärschen, Vorträgen und Filmvorführungen. Die verstärkten Anstrengungen und Aktivitäten brachten der Kolonialbewegung einen rasanten Zulauf, der sich sowohl in den Mitgliederzahlen als auch den Geschäftsberichten niederschlug.[11] Bis April 1939 stieg die Mitgliederzahl des neuen RKB auf eine Million und 1941 auf zwei Millionen.[12]

Der koloniale Gedanke marschiert!“: Der Reichskolonialbund in Marzahn-Hellersdorf

Die koloniale Propaganda erfasste auch den Berliner Stadtrand. In den Ortsteilen, die heute den Bezirk Marzahn-Hellersdorf bilden, gründeten sich lokale Ortsgruppen des Reichskolonialbundes, so 1937 in Biesdorf und Mahlsdorf und 1938 in Kaulsdorf.[13] Bereits nach wenigen Monaten, im Mai 1937, hatten sich rund 200 Mitglieder der Mahlsdorfer RKB -Ortsgruppe angeschlossen.[14]

Neben internen Veranstaltungen wie Monatsversammlungen der Mitglieder und im Biesdorfer Fall regelmäßig abgehaltenen Sprechstunden in der Geschäftsstelle wandten sich die Ortsgruppen mit Informationsveranstaltungen auch an die Bevölkerung im Bezirk.[15] Dabei handelte es sich meist um Vorträge, Filmvorführungen oder Erzählabende, die in lokalen Gaststätten und Lichtspielhäusern ausgerichtet wurden. Diese Veranstaltungen der Ortsgruppen hatten das Ziel, den kolonialen Gedanken lokal zu verankern. Das Resümee zweier kolonialpolitischer Veranstaltungen, die am 24. Februar 1937 zeitgleich in Mahlsdorf und Biesdorf stattfanden, verzeichnet diesbezüglich erste Erfolge: Beide Versammlungen waren gut besucht und hätten bei den Anwesenden „freudigen Anklang“ gefunden – so daß man auch von unserem Osten sagen kann: Der koloniale Gedanke marschiert!“[16]

Im Herbst 1937 startete der Ortsverband Mahlsdorf eine „Kolonialpolitische Vortragsreihe“, die gemeinsam mit der NSDAP-Ortsgruppe im Lokal Deutsche Ecke in Alt-Mahlsdorf durchgeführt wurde. Eröffnet wurde die Reihe Anfang Oktober mit einem Referat über „Voraussetzungen der nationalsozialistischen Kolonialpolitik“. Laut Veranstaltungsbericht habe der Fachredner den „gespannt folgenden Hörern die Notwendigkeit der Wiedererlangung unserer Kolonien vor Augen [geführt].“[17] Der zweite Abend der Reihe mit rund 300 Besuchern widmete sich der Geschichte der Kolonien und der letzte Vortrag am 7. Februar 1938 behandelte die wirtschaftliche Bedeutung der deutschen Kolonien, wobei der Redner – ein ehemaliger Kolonialfarmer – das vermeintliche „deutsche Raumproblem“ erörterte und „die Wichtigkeit der Kolonien für unsere Nahrungs- und Rohstoffversorgung“ hervorhob.[18]

Diese Vortragsreihe sowie andere Veranstaltungen der RKB-Ortsgruppen in Marzahn-Hellersdorf spiegeln den zeitgenössischen Kolonialdiskurs wider. Anhand der Berichterstattung über RKB-Veranstaltungen im Lichtenberger Anzeiger können zentrale Diskursmotive aufgezeigt werden. Dazu zählen die Romantisierung von Deutschlands Kolonialvergangenheit und die Heroisierung zentraler Figuren aus der Zeit der kolonialen »Eroberung« sowie Militärs der Kolonialkriege. Besonders deutlich zeigt dies ein Veranstaltungsbericht über einen Vortragsabend der RKB-Ortsgruppe Mahlsdorf im Mai 1937:

„Man hörte von der Besitzergreifung in den achtziger Jahren, von den wirtschaftlichen, sozialen und hygienischen Maßnahmen um die Sicherung und Erschließung dieses Kolonialbesitzes, ferner von den verzweifelten, heldenhaften Versuchen der Verteidigung gegen den Ueberfall der Feinde des Weltkrieges auf das völlig ungeschützte, auf keinen Angriff vorbereitete Land und zuletzt von den mutigen Hütern der Besitzungen der Pflanzer und Tierzüchter in unseren Tagen bis zu den Pfadfindern, die nun schon die dritte Generation auf deutschen Boden in Uebersee sind. Ein Heldenlied, das ebenso die Jugend begeistert, wie jeden Deutschen mit neuer Verpflichtung erfüllt!“[19]

Ein weiteres gängiges Diskursmotiv war das der sogenannten »Kolonialschuldlüge«. Die Siegermächte des Ersten Weltkrieges hatten Deutschland die Fähigkeit abgesprochen, Kolonialarbeit im Sinne der europäischen »Zivilisierungsmission« zu leisten. Insbesondere von britischer Seite wurde die deutsche Kolonialherrschaft als äußerst gewalttätig dargestellt und auf deutsche Gräueltaten in den Kolonialkriegen verwiesen. Diese Anschuldigungen erregten den Zorn der deutschen Öffentlichkeit; sie wurden als haltlos kritisiert und als »Kolonialschuldlüge« zurückgewiesen.[20] Um die Vorwürfe zu entkräften, inszenierte die Kolonialbewegung die Deutschen als vermeintlich »gute Kolonisatoren« und verklärte die deutsche Gewaltherrschaft in Afrika und Asien als rechtmäßig und vorbildhaft. Beim bereits erwähnten Vortragsabend zur deutschen Kolonialgeschichte im November 1937 hob der Redner die „vorbildliche[ ] deutsche[ ] Verwaltung“ hervor und verwies auf die Geschichte der deutschen Kolonien als besten Beweis „für die Rechtmäßigkeit des Anspruchs auf die Herausgabe unserer Kolonien“.[21]

Untermauert wurden die romantisierenden und verklärenden Darstellungen durch Erfahrungsberichte von ehemaligen Siedlern, Farmern oder Kolonialsoldaten. Diese Schilderungen machten die koloniale Welt greifbar und schafften einen emotionalen Zugang zu den Themen und Forderungen der Kolonialbewegung. Dabei verliehen die persönlichen Berichte den Veranstaltungen Authentizität und legitimierten die politischen Forderungen durch persönliche Apelle. Besonders illustriert dies der Veranstaltungsbericht über einen Vortragsabend des RKB-Ortsverbands Kaulsdorf im April 1939:

„Pg. [Parteigenosse, Anm. der Verf.] Riebtsch, der älteste Kolonialredner Deutschlands, ist als Trommler zur deutschen Schutztruppe nach Ostafrika gekommen und konnte aus seinen eigenen Erlebnissen eine anschauliche Schilderung des Lebens in Deutsch-Ost-Afrika geben. (…) Aus seinen eigenen Erfahrungen und Erlebnissen widerlegte der Redner die Lügen, die über die koloniale Tätigkeit Deutschlands mit bestimmter Absicht verbreitet werden, und begründete die Notwendigkeit, daß Deutschland die ihm geraubten Kolonien zurückerhalte. Er schloß mit dem Wunsche und der Hoffnung, daß auf den Verwaltungsgebäuden der Kolonien in Kürze die Hakenkreuzfahne wehen möge.“[22]

Neben Veranstaltungen mit inhaltlichem Programm luden die RKB-Ortsgruppen auch zu geselligen Abenden, wobei die Vorführung von Kolonialfilmen und Auftritte der Musikkapelle des Kolonialkriegerbundes besonders beliebt waren. Im März 1939 veranstalteten die RKB-Ortsverbände Kaulsdorf und Mahlsdorf beispielsweise einen Abend unter dem Motto „Frühling unter Palmen“ in einer Gaststätte in der Hönower Straße. Laut Veranstaltungsbericht gab es ein buntes Programm mit geschmücktem Saal, Aufführungen und Tanz, Musik sowie eine kleine Ausstellung „mit Erinnerungsstücken an unsere Kolonien“.[23] Derlei Veranstaltungen waren häufig Treffpunkt für ehemalige Siedler:innen. Insbesondere Afrika fungierte hier als Sehnsuchtsort für Abenteuer und als Projektionsfläche für unerfüllte koloniale Träume anstatt als konkreter Ort von gewaltvoller Herrschaft, rassistischer Unterdrückung und wirtschaftlicher Ausbeutung.

Der RKB im nationalsozialistischen Alltag in Marzahn-Hellersdorf

Auch abseits der eigenen Veranstaltungen war der Reichskolonialbund im Bezirk präsent und koloniale Themen bildeten einen Teil der nationalsozialistischen Alltagswelt. Begünstigt wurde dies durch die Verzahnung von NSDAP und RKB. Der Jahresbericht des Berliner RKB-Gauverbandes von 1940 hebt hervor, dass die Zusammenarbeit des RKBs mit der NSDAP „in den Kreisen besonders fruchtbar [ist], in denen eine Personalunion zwischen Partei und Reichskolonialbund besteht.“[24] Dies galt beispielsweise für Mahlsdorf, wo sich der NSDAP-Ortsgruppenleiter Fritz Müller für die Gründung und die besondere Förderung des RKB-Ortsverbandes einsetzte.[25] Im Mai 1937 bekräftigte Müller die „grundsätzliche Übereinstimmung von Ortsgruppe und RKB“ und lobte die „vorbildliche Zusammenarbeit“, die im Sinne der NDSAP-Kreisleitung sei.[26] Ab August 1937 war die Geschäftsstelle des Mahlsdorfer RKB-Ortsverbandes in den Räumlichkeiten des HJ-Unterbannführers in der Köpenicker Straße 15 (heute Hultschiner Damm 333) untergebracht und im Herbst desselben Jahres startete in Mahlsdorf die bereits erwähnte kolonialpolitische Vortragsreihe, die gemeinsam von der lokalen RKB- und NSDAP-Ortsgruppe veranstaltet und die von vielen Mitgliedern der Partei und der HJ besucht wurde.[27]

Beim unter der Schirmherrschaft der NSDAP stehenden Biesdorfer Blütenfest konnte der RKB 1937 und 1938 eine breite Öffentlichkeit im Bezirk erreichen. Das Fest im Biesdorfer Schlosspark bot 1937 neben einer »Heimatausstellung« und einer Vorführung von Kriegsschiffmodellen somit auch Einblicke in koloniale Themen, über die der Lichtenberger Anzeiger am 7. Mai 1937 berichtete:

„Mittwoch abend fand in einem im Schloßpark entstandenen Riesenzelt eine Filmveranstaltung „Die Reiter von Deutsch-Ostafrika“ statt. Ein Musikzug des Reichskolonialkriegerbundes spielte und Ortsgruppenleiter Bausdorf der NSDAP brachte unter Hinweis auf die notwendige Lösung der Kolonialfragen ein Sieg-Heil auf Führer und Vaterland aus.“[28]

Im Jahr darauf, beim Blütenfest 1938, zeigte der Reichskolonialbund im Biesdorfer Schloß eine Kolonialausstellung (siehe Abbildung). Der Lichtenberger Anzeiger wies darauf hin, dass diese „Erinnerungsstücke aus unseren Kolonien, Proben des Bodenreichtums, der Vegetation, Waffen, Schmuckstücke usw. enthält, [und] die erste dieser Art in Berlin sein dürfte.“[29] Die Ausstellung soll „den ganzen Tag über von einer dichten Menschenmasse umlagert“ gewesen sein, „die aufmerksam den Erklärungen lauschte, die von früheren Kolonialsoldaten gegeben wurde[n].“[30]

Laut der Historikerin Willeke Sandler waren Ausstellungen für die Kolonialbewegung im Nationalsozialismus ein besonders wirksames Instrument, um kolonialistische Themen im öffentlichen Raum zu platzieren. Ihren Zählungen nach organisierte der RKB zwischen 1933 und 1943 sechs große Ausstellungen, davon zwei als Wanderausstellungen und Dutzende weitere auf regionaler Ebene. Die »Große Deutsche Kolonialausstellung«, die als Schau durch Deutschland tourte, besuchten zwischen 1933 und 1938 rund 1.7 Millionen Menschen. Die Ausstellungen gaben der Kolonialbewegung ein öffentliches Gesicht und brachten Besucher:innen mit kolonialen Themen und Fragen in Berührung. Sandler schätzt sie daher als „wichtiges Propagandamittel“ ein. So hätten die Kolonialisten in NS-Deutschland „metaphorisch und physisch“ öffentlichen Raum eingenommen.[31]

Hitler und die Kolonialfrage: Legitimationsstrategien der RKB-Ortsgruppen

Die Bemühungen der Kolonialbewegung, im öffentlichen Raum wahrgenommen zu werden, zeugen zugleich von der Erfordernis, sich Präsenz im politischen Diskurs zu erkämpfen. Das NS-Regime sah die Kolonialbewegung anfänglich als potenzielle Verbündete an und bezog ihre Interessen zumindest in Ansätzen in ihre politische Agenda ein. Einige führende NSDAP-Mitglieder bekannten sich öffentlich zu kolonialen Bestrebungen – insbesondere, weil sie deutschen Kolonialbesitz für wirtschaftlich notwendig hielten.[32] Auch Adolf Hitler selbst trat wiederholt für die Rückgewinnung der Kolonien ein. Im Februar 1933 erklärte er, die kolonialen Bestrebungen keinesfalls aufgegeben zu haben: „[W]ir brauchen Kolonien genau so nötig, wie irgendeine andere Macht.“[33]

Derlei Äußerungen verstanden die Kolonisten als Bekenntnisse zum kolonialen Projekt und griffen sie propagandistisch auf. Diese Legitimationsstrategie lässt sich auch auf lokaler Ebene in Marzahn-Hellersdorf feststellen. So wurde bei der Gründung der RKB-Ortsgruppe Mahlsdorf im Februar 1937 eine Verbindung zu Hitlers Parteitagsrede im Januar des gleichen Jahres hergestellt, in der er koloniale Forderungen gestellt hatte. Dabei wurden die zukünftigen Aktivitäten der RKB-Ortsgruppen im Kleinen durch Bezugnahme auf die nationalsozialistische Politik im Großen begründet:

„Damit der Führer seine Forderung mit Erfolg vertreten kann, braucht er die Front, die sich im Kampf für die Wiedergewinnung unserer Kolonien hinter ihn stellt. Diese Kampffront ist im Reichskolonialbund verkörpert!“ [34]

Beim Eröffnungsabend der kolonialpolitischen Vortragsreihe im Oktober 1937 wurde die begeisterte Resonanz auf den Vortrag über die „Voraussetzungen der nationalsozialistischen Kolonialpolitik“ ebenfalls auf eine kolonialpolitischen Appell Hitlers zurückgeführt, den dieser kurz zuvor beim »Reichserntedankfest« auf dem Bückeberg bei Hameln in seiner Rede platziert hatte:

„Wieder und wieder bekundete der spontane Beifall, wie lebhaft der Widerhall war. –Noch standen alle unter dem starken Eindruck der Forderung, die der Führer in seiner Rede beim Staatsakt auf dem Bückeberg unmißverständlich erhoben hatte: unermeßlich die Bedeutung, die unsere Kolonien für die Auslese unseres Nachwuchses haben werden!“[35]

Taktisches Kalkül und kolonialpolitische Spielräume

Die Kolonialbewegung – sowohl ihre Eliten als auch die lokalen Strukturen – hielt sich an einzelnen Äußerungen Hitlers fest. Häufig handelte es sich bei derlei Forderungen jedoch um Lippenbekenntnisse und taktisches Kalkül. Hitler instrumentalisierte die Kolonialpolitik und taktierte mit den Forderungen nach der Wiedergewinnung der Kolonien, insbesondere als außenpolitisches Druckmittel gegenüber England.[36] Andere führende NS-Politiker missbilligten die kolonialen Vorhaben  offen. Die Uneinigkeit in der NS-Führung und die Unschlüssigkeit Hitlers in der Kolonialfrage gab der Kolonialbewegung dabei jedoch den notwendigen Spielraum für ihre Aktivitäten. Dies führte zu der paradoxen Situation, dass die umfangreiche Kolonialplanung auf juristischem, wissenschaftlichen, medizinischem und militärischem Gebiet ohne realpolitische Grundlage bis 1943 weiterlief.[37] Der Beginn des Zweiten Weltkrieges 1939 ergänzte die kolonialrevisionistischen Absichten um eine militärische Option.[38] Die Zeit von Juli 1940 bis Dezember 1941 bezeichnet Historiker Karsten Linne als „langes Jahr der Kolonialeuphorie“.[39] Die Niederlage Frankreichs im Sommer 1940 schuf für kurze Zeit die militärischen und politischen Voraussetzungen für die Eroberung von kolonialem Gebiet. Damit nahmen die Vorstellungen und Entwürfe der NS-Kolonialplaner „endgültig größenwahnsinnige Züge“ an, so Linne.[40]

Das wachsende Interesse an der deutschen Kolonialpolitik schlug sich auch im RKB und seinen lokalen Strukturen nieder. Die Mitgliederzahlen stiegen 1940 rasant an und das Thema wurde öffentlich rege diskutiert. Der Jahresbericht des Berliner RKB resümiert, es habe 1940 einen „umfassenden und erfolgreichen Einsatz für die Schaffung eines kolonialfreudigen und kolonialbewußten Berlins“ gegeben.[41] Mitglieder- und Beitragszahlungen hätten sich in Berlin „trotz erschwerter Umstände“ positiv entwickelt. Allein in der Reichshauptstadt hätten sich 10523 neue Mitglieder dem lokalen Gauverband angeschlossen. [42]

Der Jahresbericht ist wie die Veranstaltungsberichte im Lichtenberger Anzeiger im Kontext der NS- und Kolonialpropaganda zu lesen und zeugt von agitatorischer Überschwänglichkeit. Die Veranstaltungen der lokalen RKB-Ortsgruppen im heutigen Marzahn-Hellersdorf hatten zu diesem Zeitpunkt bereits nachgelassen – zumindest ist dies anzunehmen, da die Berichterstattung über die Aktivitäten der RKB-Ortsgruppen sowie über kolonialpolitische Veranstaltungen ab 1940 abebbte. Bereits Anfang 1939 hatte der Lichtenberger Anzeiger über eine „längere Versammlungsruhe“ bim RKB-Ortsverband Biesdorf berichtet, die mit einer „inneren Umorganisation“ begründet wurde.[43] Zuletzt wurde bezüglich des heutigen Marzahn-Hellersdorf über einen Kolonialabend über Kamerun mit Lichtbildvortrag berichtet, der am 10. Juli 1941 im Gesellschaftshaus Keibel in Kaulsdorf stattfand. [44]

Kolonialpolitik versus Ostpolitik: Das Ende der Kolonialbewegung

Im Verlauf des Zweiten Weltkrieges erhöhte sich die Spannung zwischen Kolonialpolitik und Ostpolitik und die Kolonialbewegung geriet verstärkt unter Rechtfertigungsdruck. Nicht die Wiedergewinnung der Kolonien, sondern die Gewinnung von »Lebensraum« im Osten war das erklärte Ziel der Nationalsozialisten.[45] Daher galten insbesondere seit dem Überfall auf die Sowjetunion im Sommer 1941 alle Anstrengungen der kontinentalen Ostexpansion. Die Kolonialpropaganda des RBK wurde von führenden NDSAP-Eliten verstärkt als gefährliche Ablenkung von den eigentlichen Kriegszielen kritisiert. Die Kolonialbewegung wurde für das NS-Regime zunehmend irrelevant – sowohl was ihre ideologische Ausrichtung als auch ihre praktischen Vorhaben betraf. Die kolonialen Verbände waren kriegsbedingt angehalten, ihre Aktivitäten zu reduzieren. Ab 1941 wurden von Seiten der NSDAP Publikationen und Veranstaltungen des RKB eingeschränkt, um die öffentliche Auseinandersetzung mit der deutschen Kolonialpolitik zu unterbinden. Letztlich kam die NS- Kolonialpolitik nie über das Stadium der Planung und Vorarbeit hinaus.[46] Die deutsche Kolonialbewegung vermochte es nicht, ihre Forderungen politisch durchzusetzen, da ihr, ihren zentralen Figuren und Institutionen letztlich legislative und exekutive Vollmachten fehlten.[47] Nach der Kapitulation in Stalingrad, gescheiterten Großoffensiven an der Ostfront und Niederlagen in Nordafrika, war das kolonialrevisionistische Projekt endgültig gescheitert und die kolonialen Institutionen und Vereinigungen wurden – wenn auch nicht widerstandslos – abgewickelt.[48]

provided by Museum Marzahn-Hellersdorf

Programmheft zum Blütenfest 1938 im Biesdorfer Schloss mit Hinweis auf die Kolonialausstellung des Reichskolonialbundes (Sammlung Karl-Heinz Gärtner)

Marie Schneider

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Zitieren des Artikels

Marie Schneider: Der Reichskolonialbund im heutigen Marzahn-Hellersdorf. In: Kolonialismus begegnen. Dezentrale Perspektiven auf die Berliner Stadtgeschichte. URL: http://kolonialismus-begegnen.de/geschichten/der-reichskolonialbund-im-heutigen-marzahn-hellersdorf/ (06.12.2023).

Literatur & Quellen

[1] Vgl. Florian Ulrich Krobb und Elaine Martin, Hrsg., Weimar Colonialism: Discourses and Legacies of Post-Imperialism in Germany after 1918 (Bielefeld, 2014).

[2] Eine umfassende Analyse der NS-Kolonialpolitik sowie des Verhältnisses der historischen Phänomene Kolonialismus und Nationalsozialismus zueinander kann an dieser Stelle nicht geleistet werden.

[3] Der Text achtete auch geschlechtersensible Sprache und nutzt – wo sinnvoll – den sogenannten Gender-Doppelpunkt, zum Beispiel wenn es um die Besucher:innen einer Ausstellung oder die Arbeiter:innen auf einer Plantage geht. Jedoch gendert der Text die Begriffe „Nationalsozialisten“ und „Kolonialisten“ nicht. Nach derzeitigem Forschungsstand waren im Untersuchungszeitraum kaum Frauen an der NS-Kolonialplanung beteiligt und keine Ämter in den Institutionen, die der Text behandelt, wurden von Frauen bekleidet. Im Quellenmaterial kommen ebenso fast ausschließlich Männer vor.

[4] Karsten Linne, Deutschland jenseits des Äquators? Die NS-Kolonialplanungen für Afrika (Berlin, 2008), 19.

[5] Linne, 22.

[6] Linne, 29.

[7] Linne, 26.

[8] Linne, 28–30.

[9] Willeke Sandler, Empire in the Heimat: Colonialism and Public Culture in the Third Reich (New York, 2018), 179–80.

[10] Vgl. Sandler, 8.

[11] Linne, Deutschland jenseits des Äquators?, 46; Vgl. auch Sandler, Empire in the Heimat, 17, 177.

[12] Sandler, Empire in the Heimat, 184.

[13] Lichtenberger Anzeiger und Tageblatt (im Folgenden: LAT) vom 18.02.1937, „Ortsverband Mahlsdorf des Reichskolonialbundes“; Bezirksmuseum Marzahn-Hellersdorf. Marzahn-Hellersdorf 1933 bis 1945, Eine Chronik, Berlin 2013, S. 58.

[14] LAT vom 26.05.1937, „Kolonialarbeit in Wort und Bild“.

[15] Vgl. z.B. LAT vom 26.04.1939, „Kolonialvortrag in Biesdorf“.

[16] LAT vom 25.02.1937, „Der Reichskolonialbund wirbt“.

[17] LAT vom 15.10. 1937, „Kolonialpolitische Vortragsreihe in Mahlsdorf eröffnet“.

[18] LAT vom 12.11.1937, „Deutsche Kolonialgeschichte / Ein gelungener Vortragsabend“ sowie vom 10.02.1938, „Kolonialvortrag in Mahlsdorf“.

[19] LAT vom 26.05.1937, „Kolonialarbeit in Wort und Bild / Vortragsabend in Mahlsdorf“.

[20] Gabriele Metzler, „Krisen und Niedergang der europäischen Imperien“, Informationen zur politischen Bildung 338, Nr. 2 (2018): 27–29.

[21] LAT vom 12.11.1937, „Deutsche Kolonialgeschichte / Ein gelungener Vortragsabend“.

[22] LAT vom 26.04.1939, „Deutsch-Ostafrika“.

[23] LAT vom 29.03.1939, „Frühling unter Palmen“.

[24] Reichskolonialbund, Jahresbericht des Gauverbandes Berlin, Berlin 1941, S. 8.

[25] LAT vom 18.02.1937, „Ortsverband Mahlsdorf des Reichskolonialbundes“.

[26] LAT vom 26.05.1937, „Kolonialarbeit in Wort und Bild“.

[27] LAT vom 19.08.1937, „Neue Geschäftsstelle des Ortsverbandes Mahlsdorf des Reichskolonialbundes“ sowie vom 15.10.1937 „Kolonialpolitische Vortragsreihe in Mahlsdorf eröffnet“.

[28] LAT vom 07.05.1937, „Vom Biesdorfer Blütenfest“.

[29] LAT vom 04.05.1938, „Mit dem Kremser ins Blütenparadies / Vom Biesdorfer Heimat- und Blütenfest“.

[30] LAT vom 09.05.1938, „Ausklang des Heimatfestes“.

[31] Zum ganzen Abschnitt zu Kolonialausstellungen siehe: Sandler, Empire in the Heimat, 194.

[32] Linne, Deutschland jenseits des Äquators?, 39.

[33] Zitiert nach Linne, 26.

[34] LAT vom 18.02.1937, „Ortsverband Mahlsdorf des Reichskolonialbundes“.

[35] LAT vom 15.10.1937, „Kolonialpolitische Vortragsreihe in Mahlsdorf eröffnet“.

[36] Linne, Deutschland jenseits des Äquators?, 28.

[37] Linne, 166–68; Sandler, Empire in the Heimat, 10–11.

[38] Linne, 70.

[39] Linne, 81.

[40] Linne, 81–83, 168; Zitat S. 81.

[41] Jahresbericht des Gauverbandes Berlin, S. 16.

[42] Jahresbericht des Gauverbandes Berlin, S. 2.

[43] LAT vom 24.02.1939, „Deutsche Kolonien – eine Lebensnotwendigkeit!“.

[44] Lichtenberger Nachrichten vom 12 und 13.07.1941, „Deutscher Fleiß bringt reiche Ernte“.

[45] Linne, Deutschland jenseits des Äquators?, 41.

[46] Sandler, Empire in the Heimat, 275; Linne, Deutschland jenseits des Äquators?, 166.

[47] Linne, Deutschland jenseits des Äquators?, 166.

[48] Sandler, Empire in the Heimat, 290; Linne, Deutschland jenseits des Äquators?, 154.

 

Quellen

Lichtenberger Anzeiger und Tageblatt, 1937-1941

Lichtenberger Nachrichten, 1941

Reichskolonialbund, Jahresbericht des Gauverbandes Berlin, Berlin 1941

 

Literatur

Bezirksmuseum Marzahn-Hellersdorf. Marzahn-Hellersdorf 1933 bis 1945, Eine Chronik, Berlin 2013.

Krobb, Florian Ulrich, und Elaine Martin, Hrsg. Weimar Colonialism: Discourses and Legacies of Post-Imperialism in Germany after 1918. Bielefeld, 2014.

Linne, Karsten. Deutschland jenseits des Äquators? Die NS-Kolonialplanungen für Afrika. Berlin, 2008.

Metzler, Gabriele. „Krisen und Niedergang der europäischen Imperien“. Informationen zur politischen Bildung 338, Nr. 2 (2018): 26–33.

Sandler, Willeke. Empire in the Heimat: Colonialism and Public Culture in the Third Reich. New York, 2018.

 

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