Die Brüdergemeine in Rixdorf und ihre kolonialen Verflechtungen

Unweit der S- und U-Bahnstation „Neukölln“, in der Kirchgasse 14, liegt der Betsaal der Evangelischen Brüdergemeine und damit das Zentrum der heutigen Brüdergemeine in Berlin[1]. Seit dem 18. Jahrhundert hatten sich evangelische Böhmen in Berlin angesiedelt, die ihre Heimat verlassen mussten, da sie ihre Konfession nicht aufgeben wollten. Die Gemeine in Berlin bekannte sich zur Herrnhuter Brüdergemeine in der Lausitz.

Im Zuge der kolonialen Expansion des Deutschen Reichs im 19. Jahrhundert begann auch die Brüdergemeine mit der Mission in der damaligen Kolonie „Deutsch-Ostafrika“ (heute: Tansania, Burundi, Ruanda). Wie andere Missionsgesellschaften – nicht nur in Berlin – profitierte auch sie vom kolonialen Unrechtssystem.

Die (außereuropäische) Missionstätigkeit der Brüdergemeine begann dabei nicht erst mit der gewaltsamen Besetzung von Gebieten als deutsche Kolonien. Schon früh wurde die Mission als ein wesentlicher Bestandteil der Brüdergemeine verstanden. Bereits 1732 wurden die ersten Missionare ausgesandt, die versklavte Menschen auf den Plantagen der späteren dänischen Kolonie St. Thomas missionieren sollten.

In den folgenden Jahren gründete die Brüdergemeine weitere Missionsstationen in Grönland, Südafrika und Surinam – allesamt Kolonien evangelisch regierter Länder. Die Auswahl der Missionsgebiete war also nicht zufällig, sondern abhängig von den „politischen Rahmenbedingungen der kolonialen Welt.“[2] Die Brüdergemeine brauchte die Unterstützung, bzw. zumindest die Duldung der jeweiligen Kolonialregierungen.[3] Schon früh gingen auf diese Weise von der Brüdergemeine – auch in Berlin – wesentliche Impulse zur Entwicklung des evangelischen Missionsbewusstseins aus.[4]

Im Jahr 1890 – und damit kurz nach der gewaltsamen Niederschlagung des Widerstandes der ostafrikanischen Küstenbevölkerung gegen die koloniale Besatzung – entschloss sich, nach anfänglichem Zögern, auch die Brüdergemeine dazu, in „Deutsch-Ostafrika“ zu missionieren.[5] Sie verständigte sich mit der Berliner Missionsgesellschaft in Friedrichshain über die unterschiedlichen Missionsgebiete und sandte schon wenig später die ersten Missionare aus.[6] In den folgenden Jahren wurden weitere Missionar:innen ausgesandt und Missionsstationen gegründet, sodass die Gemeine im Jahr 1902 auf zehn Missionsstationen im Gebiet des Nyassa Sees und in Unyamwezi aktiv war.[7]

Auch aus der Rixdorfer Gemeine wurden Missionar:innen ausgesandt. So berichtet das Missions-Blatt, die Zeitschrift der Mission der Brüdergemeine, davon, dass Anna Magdalena und Ernst Otto Giersch 1906 aus Rixdorf nach „Deutsch-Ostafrika“ ausreisten. Während Anna Magdalena in Rixdorf, in der Kirchgasse 6 zur Welt kam, stammte der Tischler Ernst Otto Giersch aus Brandenburg. Nach der Missionsschule in Schlesien besuchte er das Orientalische Seminar in Berlin und wurde in Rixdorf ordiniert. Dort heiratete auch das Paar. Beide waren in „Deutsch-Ostafrika“ auf der Missionsstation Mbozi tätig. Wie ihr Alltag dort aussah, lässt sich heute schwer rekonstruieren. In dem Missions-Blatt ist lediglich die Rede davon, dass sie auf der Station in die Arbeit eingeführt wurden und später in der Missionsschule unterrichteten.[8] Zwei Fotografien zeigen Ernst Otto, wie er sich – ganz der Idee der europäischen Überlegenheit entsprechend – in einer Rikscha ziehen lässt und afrikanische Menschen im Umgang in der Arbeit mit der Nähmaschine anweist.

Das Gefühl der eigenen kulturell- religiösen, eurozentrischen Überlegenheit waren dabei auch in der Mission der Brüdergemeine zentral. Sehr deutlich wurde dies bei Charles Buchner, der zeitweise der Missionsdirektor der Herrnhuter Brüdergemeine und „einer der führenden Männer der evangelischen Mission seiner Zeit“ war.[9] In einem Artikel bezeichnete er die kolonialisierten Menschen als die „mit dem kindlichen und kindischen Wesen des noch Unerzogenen“ und verglich sie mit „unsern Kindern.“[10] Deutlich bezog er sich auf das rassistische Modell vermeintlicher Entwicklungsstufen und betonte, dass gewisse Verhaltensweisen doch „nur Entwicklungsstufen einer eben erst durch die Berührung mit der Kultur in die geistige Entwicklung eingetretenen Rasse“[11] seien. Die daraus abgeleitete „notwendige Erziehung“ war in seinen Augen auch eine Aufgabe der Mission – im Einklang mit der Kolonialregierung. Es blieb dabei nicht bei rein theoretischen Abhandlungen: Buchner war eng in die kolonialen Strukturen im Deutschen Reich verflochten. Er war Vertreter im Kolonialrat, einem Gremium, das dem Reichskolonialamt beratend zur Seite stehen sollte. Zudem war er von 1905 bis 1907 Vorsitzender des Ausschusses der deutschen evangelischen Missionen.[12] In diesem Ausschuss ging es darum, die gemeinsamen Interessen der Missionsgesellschaften zu vertreten und auch das Deutsche Kolonialamt mit „allen nötigen Informationen zu versehen und jede von ihm gewünschte Auskunft über missionarische Fragen zu erteilen.“[13]

Die angestrebte „Erziehung“ hatte dabei weitreichende Folgen für die kolonialisierten Menschen: Auf den Missionsstationen, die zentral waren für die missionarische Arbeit, verurteilten die Missionare fast alles – Kultur, Sprachen und Religionen, was nicht in ihre bürgerliche-christlichen Vorstellungen passte, als „heidnisch“ und verboten dies.[14] Sie griffen damit tief in bestehende soziale Strukturen ein.

Wie sehr sich diese Idee der eigenen Überlegenheit mit der kolonialen Agenda deckte, wurde in einer Rede Buchners, die er 1905 auf dem Kolonialkongress in Berlin hielt, mehr als deutlich. In „Die Mithilfe der Mission bei der Erziehung der Eingeborenen zur Arbeit“ betonte er, dass die Arbeit schon immer ein integraler Bestandteil des Christentums gewesen sei: „Wer nicht arbeitet, soll auch nicht essen“ sei ein „dem eigensten Wesen des Christentums entsprungenes Gesetz.“[15] Entsprechend dieser Logik bezeichnete Buchner die Missionsstationen als „Arbeitszentrum“, in dem „die Eingeborenen“ durch die „Berührung mit der Kultur“ durch die Mission „allerlei neue Bedürfnisse“ entwickeln würden, für dessen Befriedigung das Arbeiten auf den zahlreichen Plantagen von Nöten sei. Setze sich „nun diese Erkenntnis allmählich in die Tat um, so haben davon sowohl der Ansiedler, bei welchem der Eingeborne sein Geld verdienen, als auch der Kaufmann, bei welchem er es verausgaben muss, den Vorteil.“[16] Auch der Zwang habe „innerhalb gewisser Grenzen sein Recht“: „Jeder Erzieher weiss, dass es eine Erziehung ohne einen gewissen Zwang nicht gibt, dass jede Erziehung bis zu einem gewissen Grade eine Nötigung in sich schliesst.“[17]

Es wird deutlich, wie die christliche Mission die Ausbeutung afrikanischer Menschen befürwortet und legitimiert. Tatsächlich profitierten aber nicht nur „der Ansiedler“ und „der Kaufmann“ von dieser vermeintlichen „Erziehung“. Auf den Missionsstationen der Brüdergemeine selbst waren oftmals Plantagen angegliedert, auf denen Afrikaner:innen arbeiten sollten.

Nicht selten leisteten die Arbeiter:innen aufgrund des geringen Lohns Widerstand und organisierten Streiks.[18] Auch auf der Missionsstation Mbozi, auf der Ernst Otto und Anna Magdalena aus Rixdorf tätig waren, wurden umfangreiche Kaffee- und Kautschukplantagen errichtet.[19] Die Missionsstation gehörte zu einer der mitgliederstärksten Stationen der Brüdergemeine in „Deutsch-Ostafrika“. Und der Missionar Traugott Bachmann, der die Station aufbaute, stand – da er die „Werte der ostafrikanischen Kultur“ betonte – mehrfach im Konflikt mit der Missionsleitung in Deutschland.[20]

Auch wenn es also vereinzelt Missionare gab, die die Kooperation mit dem Kolonialstaat kritisierten und ablehnten, so profitierten die meisten vom kolonialen Unrechtssystem und kooperierten mit diesem. Nicht selten waren die Missionare dabei selbst als Übersetzer oder als Steuereintreiber direkt im Auftrag des Kolonialstaats tätig.[21]

Als in der Kolonie „Deutsch-Ostafrika“ 1897 die sogenannte „Hüttensteuer“, eine vom Einkommen unabhängige Steuer, von der Kolonialadministration erhoben wurde, die zu verschärfter Zwangsarbeit und massiver Ausbeutung führte, befürwortete der Missionsdirektor Buchner diese ebenfalls.[22] Er bezeichnete sie als „Massregel“, die „wir Missionare (…) als eine segensreiche mit Freuden begrüsst“ hätten, „denn sie hat entschieden die Eingeborenen zu weiteren Anstrengungen auf dem Gebiet der Arbeit veranlasst, ohne ihnen etwas Unrechtes zuzumuten.“[23]

Der Arbeitszwang, die Unterdrückung und die hohen Steuern waren auch ein Auslöser der Maji-Maji Widerstandsbewegungen in „Deutsch-Ostafrika“, auf die die deutsche Regierung mit brutaler Härte reagierte. Im Maji-Maji Krieg wurden zwischen 150.000 und 300.000 Afrikaner:innen von den kolonialen Truppen getötet.[24] Der Widerstand wurde von den meisten Missionsgesellschaften als Widerstand gegen die gottgewollte Ordnung verstanden. So heißt es auch in einer im Missions-Blatt abgedruckten Rede eines Missionars, dass „Steuerzahlung […] und damit Gehorsam gegen die Obrigkeit“ im „Sinne des Wortes Gottes“ sei.[25] Gegen die Widerständischen, die als Feind bezeichnet wurden, sollten die „Hörer gegebenenfalls der Regierung Hilfe leisten […], wenn sie selbst Frieden behalten wollten.“[26]

Während des Maji-Maji Krieges waren auch Anna Magdalena und Otto Giersch noch in „Deutsch-Ostafrika“. Sie kehrten erst 1908 zurück. Anna Magdalenas Spuren verlaufen sich in der Folgezeit. Ernst Otto reiste 1927 – und damit schon nach dem Ende der deutschen Kolonialzeit – erneut zur Station Mbozi, um einen „jungen Bruder“ einzuarbeiten. Er blieb dort bis in das Jahr 1929 und starb vermutlich 1946 in Herzberg.[27]

Auch nach dem Ende der deutschen Kolonialzeit blieb die Mission ein wichtiger Bestandteil der Arbeit der Brüdergemeine und die Gemeine in Neukölln blieb mit ihr verbunden. Es wurden Missionsfeste gefeiert, auf denen heimgekehrte Missionare aus der Mission berichteten, Gegenstände aus den Regionen verkauften und die Gemeine so für die Mission begeisterten. Heute werden diese Missionsfeste in Rixdorf nicht mehr gefeiert, auch wenn die Mission nach wie vor ein wichtiger Bestandteil der Arbeit der Brüdergemeine ist.

Aus den Missionsgebieten in der ehemaligen Kolonie „Deutsch-Ostafrika“ sind eigenständige Gemeinen geworden. Über die Hälfte der Herrnhuter Christen leben heute im ostafrikanischen Raum.[28] Sie pflegen enge Kontakte – auch zu der Gemeine im heutigen Neukölln.

provided by Museum Neukölln

Mirja Memmen

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Kirchgasse 14

Zitieren des Artikels

Mirja Memmen: Die Brüdergemeine in Rixdorf und ihre kolonialen Verflechtungen. In: Kolonialismus begegnen. Dezentrale Perspektiven auf die Berliner Stadtgeschichte. URL: http://kolonialismus-begegnen.de/geschichten/die-bruedergemeine-in-rixdorf-und-ihre-kolonialen-verflechtungen/ (26.01.2023).

Literatur & Quellen

[1] Bei der Bezeichnung Gemeine handelt es sich um eine Selbstbezeichnung.

[2] Vogt, Peter: Die Mission der Herrnhuter Brüdergemeine und ihre Bedeutung für den Neubeginn der protestantischen Missionen am Ende 18. Jahrhunderts, in: Dellsperger, Rudolf u.A. (Hrsg.): Pietismus und Neuzeit. Ein Jahrbuch zur Geschichte des Neueren Protestantismus, Band 35, Göttingen 2009, S. 204-236, S. 216.

[3] Vogt 2009: S. 216.

[4] Vogt 2009: S. 204.

[5] Motel verweist darauf, dass die Brüdergemeine zunächst eine Beteiligung an der Missionsarbeit in den Kolonien ablehnte. Ihre Meinung habe sich aber geändert, als eine Stiftung ihnen einen großen Betrag für die Mission in den Kolonien zur Verfügung stellte (Motel, Hans-Beat: Die Missionsgeschichte der Brüdergemeine 1732-2010, in: Meyer, Matthias / Vogt, Peter: Herrnhuter Brüdergemeine (Evangelische Brüder-Unität / Unitas Fratrum). Die Kirchen der Gegenwart 6, Göttingen 2020. Vandenhoeck und Ruprecht. S. 89-120, S. 93).

[6] Hamilton, Majida: Mission im kolonialen Umfeld. Deutsche protestantische Missionsgesellschaften in Deutsch-Ostafrika, Göttingen 2009, S. 76-77.

[7] Motel 2020: S. 112.

[8] Altena, Thorsten: „Ein Häuflein Christen mitten in der Heidenwelt des dunklen Erdteils“. Zum Selbst- und Fremdverständnis protestantischer Missionare im kolonialen Afrika 1884-1918. Münster 2003, Anhang, S. 271 / Jones, Adam: Afrikabestände im Unitätsarchiv der Herrnhuter Brüdergemeine, II. Die in Afrika tätigen Geschwister, in: ULPA, Mission Archives Series No. 11 (2000), S. 55 / Missions-Blatt der Brüdergemeine, Jg. 70 Nr. 12 (1906), S. 399.

[9] Schieckel, Harald: „Buchner, Charles“, in: Neue Deutsche Biographie 2, Online Version, URL: URL:https://www.deutsche-biographie.de/pnd116821205.html#ndbcontent (zuletzt abgerufen 1.12.2021), S. 707.

[10] Allgemeine Missions-Zeitschrift. Monatshefte für geschichtliche und theoretische Missionskunde, Jg. 31 Nr. 9 (1904), S. 401.

[11] Allgemeine Missions-Zeitschrift. Monatshefte für geschichtliche und theoretische Missionskunde, Jg. 31 Nr. 9 (1904), S. 395.

[12] Schieckel 1955: S. 707.

[13] Schnee, Heinrich: Deutsches Kolonial-Lexikon, Leipzig 1920, S. 103.

[14] Motel 2020: S. 119.

[15] Verhandlungen des Deutschen Kolonialkongresses 1905, Berlin 1906, S. 429.

[16] Verhandlungen des Deutschen Kolonialkongress 1906: S. 431.

[17] Verhandlungen des Deutschen Kolonialkongress 1906: S. 430.

[18] Bernd, Arnold: Das Wirken der Herrnhuter Missionare in der Nyassa Provinz und ihr Verhältnis zur Deutschen Kolonialverwaltung, in: Brose / van der Heyden: Mit Kreuz und deutscher Flagge. 100 Jahre Evangelium im Süden Tanzanias. Zum Wirken der Berliner Mission in Ostafrika. Beiträge der historischen Konsultation am 31. Mai und 1. Juni 1991 in Berlin, Münster/Hamburg 1991, S. 123-126, S. 124.

[19] Altena 2003: S.168 / Altena Anhang 2003: S. 294-295.

[20] Motel 2020: S. 111.

[21] Bernd 1991: S. 124.

[22] Nach Druck der Pflanzer und um den enormen Bedarf an Arbeitskräften für die staatlichen Baumwollplantagen zu decken, wird die „Hüttensteuer“ 1905 durch eine „Kopfsteuer“ ersetzt. Faktisch stieg die Steuer damit um ein Vielfaches und führte zu Zwangsarbeit und Ausbeutung (Mezger, Sonja: „Si vita yawele chani?“ Presse und Kolonialpolitik. Der Maji-Maji Krieg in „Deutsch-Ostafrika“, URL: https://www.freiburg-postkolonial.de/Seiten/2007-Mezger-Maji.pdf (zuletzt abgerufen: 1.12.2021), S. 40.

[23] Verhandlungen des Deutschen Kolonialkongress 1906: S. 431.

[24] Mezger 2005: S. 45.

[25] Missions-Blatt der Brüdergemeine, Jg. 69 Nr. 12 (1905), S. 395-396. Zitiert wird hier aus einer Predigt des Bruder Meyer.

[26] Ebd.

[27] Jones 2000: S. 55.

[28] Motel 2020: S. 94.

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